Montag, 9. November 2009

Medien. Information. Dauerrausch(en)

Wenn sich Bundespräsident Horst Köhler die Ehre eines Grußwortes anlässlich der kleinen, unauffälligen Internetseite „lyrikline.org“ gibt, dann sollte man genauer hinhören, was er zu sagen hat: „Wenn manchmal gefragt wird, wofür der Bundespräsident zuständig ist, dann sagt man gerne: Für’s Große und Ganze. Das ist auch richtig – im Großen und Ganzen. Wenn man aber genauer hinschaut, woraus das Große und Ganze denn besteht, dann wird mir immer klarer, dass es aus sehr vielen kleinen Teilen besteht.“ Damit hat er zweifellos Recht. Auf der Internetseite lyrikline.org kann man sich Gedichte von den Autoren selbst vorlesen lassen. Damit wird das älteste Medium, das Gedicht, mit dem neusten, dem Internet zusammengebracht, um allen Zugang zur Poesie zu ermöglichen. Ein ambitioniertes und lobenswertes Projekt. Im Kern geht es um etwas anders. „Weil Gedichte die dichteste, anspruchsvollste und subjektivste Art sind, Sprache zu gestalten, die Welt ins Wort zu fassen, die Existenz zum Ausdruck zu bringen.“ So kommt Köhler schnell vom Kleinen aufs Große: „Gedichte sind kleine Widerstandsnester gegen die riesige Flut an Sprachmüll, der uns täglich aus allen Medien entgegenkommt. Wir reden vom Kommunikations- und Informationszeitalter, in dem wir leben – aber oft kommt es uns so vor, als sei die Kommunikation noch nie so belanglos und als sei die Information noch nie so leer gewesen. Die Sender müssen ja rund um die Uhr senden und die Online-Dienste ihre Schlagzeilen möglichst stündlich ändern – so kommt es, dass die Sprache in eine Art Überproduktionskrise geraten ist.“ Schaut man sich die Bestrebungen vorbildlicher und gleichermaßen ambitionierter Internetjournalisten und Bloggern an – wie sie etwa mit dem „Internet-Manifest“ Ausdruck finden sollen, so scheint es, als bewegten wir uns derzeit zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite wird das Internet als Möglichkeits- und Gestaltungsraum für Diskurse aufgefasst, die über das eigene Medium hinaus reichen, und in dem qualitative Inhalte zu partizipativen Inhalten werden – nach dem Motto: „Ich schreibe, mach mit“. Auf der anderen Seite wird dieses Motto oft allzu ernst genommen und ergießt sich dann in allerhand Unernstes, das sich fernab eines Informationsmehrwertes befindet. Bundespräsident Köhler beklagt den Informations-Overkill zu Recht. Möglicherweise ist die Jugendsprache auch eine Folge dieser informellen Orientierungslosigkeit, in der man sich mit einer individualisierten, herausragenden, eine sozialen Gruppe begrenzenden Sprache Gehör verschaffen will – wenn auch nur unter Gleichgesinnten.
Ein jeder Klickt und klickt, liest und liest, hört und hört, sieht und sieht. Medien. Information. Dauerrausch. Wir verlieren uns in Bilderfluten und Sprachgebölke. Der Turmbau zu Babel könnte zum Sinnbild gegenwärtiger Medienkultur werden, in dem keiner mehr einander versteht im endlosen Gemurmel. Ist Babylon Verderb und Ausweg zugleich, wie Lorenz Engell konstatiert? Was tun? Unterbrechen, pausieren, durchatmen, sagt Köhler und sieht die Möglichkeit in einem kleinen Gedicht: „In dieser Situation stellt das Gedicht eine Unterbrechung dar. Das Gedicht unterbricht für einen Augenblick das ewige Weiterreden. Es ermöglicht ein Atemholen – vielleicht sogar einen Moment der Wahrheit und der Selbsterkenntnis. Insofern ist es eine wunderbare List, dass durch lyrikline ausgerechnet im vielleicht geschwätzigsten Medium das gelesene Gedicht diese Unterbrechung, dieses Atemholen ermöglichen kann. Man hat mir gesagt, dass die meisten Aufrufe wohl während der Mittagspause stattfinden – also dann, wenn die Menschen eine Unterbrechung brauchen – und sich dabei buchstäblich auf einen Gedankenausflug bringen lassen möchten.“ Mahnt Köhler nicht geschickt, genauer hinzuschauen? Den kleinen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken? Das ist keine Zerstreuung, die er propagiert, er mahnt eher zur Kontemplation, ja sogar zur Konzentration. Man darf nicht müde werden, die Vielfalt als Chance zu sehen. Wenn Hingabe in Auseinandersetzung mündet, haben auch neue Medien ein gutes Werk getan. Dann ist die Hingabe nicht Orientierungslosigkeit, sondern gut begründet.

Donnerstag, 29. Oktober 2009

Ein überfälliges Internet-Manifest

Es war längst überfällig! Jetzt haben Journalisten, Autoren und Wissenschaftler ein „Internet-Manifest“ formuliert. 15 Verfasser haben 17 Punkte zum Wandel des Journalismus im Internet-Zeitalter aufgestellt. Übersetzt in bislang 17 Sprachen spricht sich das Manifest für einen qualitativen, die digitalen Möglichkeiten nutzenden Online-Journalismus aus. Dafür fordern die Verfasser, die Blockadehaltung von Seiten printorientierter Berufsschreiber aufzugeben und einen Wahrnehmungswandel anzustreben. So könne das Internet den Journalismus nicht nur verändern, sondern ihn sogar verbessern, heißt es bei Punkt 6. Der Verlust der printbedingten Unveränderlichkeit im Onlinemdium sei ein Gewinn, so die Verfasser. Dem ist zweifellos beizupflichten. Was hätte wohl die Frankfurter Rundschau getan, hätte sie ihre Fotostrecke über weinende Prominente mit dem Titel „Prominente Heulsusen“ in der Zeitung gedruckt (vgl. Stefan Niggermeiers Blogeintrag)? Es hätte haufenweise Leserbriefe gehagelt – und eine Gegendarstellung in Form einer Entschuldigung wäre angesichts des geschmacklosen Titels (es sind überwiegend Tränen der Trauer) fast schon geboten gewesen. Dank Online-Medium konnte die Frankfurter Redaktion den Titel mit einem Klick ändern. Er lautet jetzt „Prominente Tränen“. Zweifellos ist das Internet auch ein Ort für den politischen Diskurs, erst recht auch für den gesellschaftlichen (wie man erweitern könnte). Die Autoren konstatieren auch, dass es kein „Zuviel“ an Informationen gibt. Im Hinblick auf den Information-Overkill des Internets müsste man sicher ergänzen, dass unsere Selektionsfähigkeit zunehmend gefordert ist und sie eben auch geschult werden muss. Es ist letztlich die Wahl jedes einzelnen Nutzers, mit welchen Seiten er seinen täglichen Informationsbedarf deckt, und welche Sites seine Linklisten zieren. Gerade RSS-Feeds und Trackback-Funktionen erleichtern den Umgang mit Informationen. Die Entwicklungen in diese Richtung werden weiter gehen. Und möglicherweise ist diese große Informationskette keine Bedrohung sondern eine Chance. Im Internet würde das Urheberrecht zur Bürgerpflicht, heißt es dort auch. Dabei dürfe seine möglich werdende Verletzung nicht als Rechtfertigung für alte Distributionsmodelle dienen. Des Weiteren seien die Inhalte im Netz nicht mehr flüchtig, wie immer wieder bemängelt, sondern bleiben vorhanden und formieren sich zu einem „Archiv der Zeitgeschichte“. Nicht umsonst lautet das Diktum: Das Netz vergisst nie. Oder wie es im Manifest steht: „Was im Netz ist, bleibt im Netz.“ Im finalen Punkt fordern die Verfasser, die Recherche-Fähigkeiten der Nutzer von Seiten der Berufsrechercheure zu respektieren und mit ihnen zu kommunizieren. Auch diese Forderung ist zweifellos berechtigt. Letztlich deuten alle Punkte auf eine bestimmte Tatsache hin, die jedoch nicht ausgeführt wird. Und das wäre Punkt 18, der möglicherweise das Manifest selbst ad absurdum führen würde: Die Unterscheidung zwischen Leser und Autor ist hinfällig geworden. So sind die passiven Nutzer von einst die neuen Schreiber: Autoren, Journalisten, Verfasser. Das Netz ist die Erfüllung zahlreicher mediengeschichtlicher- und philosophischer Utopien: Schon Walter Benjamin wusste: Indem das Schrifttum an Breite gewinnt, was es an Tiefe verliert, gewinnen die Leser einen Zugang zur Autorschaft. Auch Berthold Brechts Forderung, den Rundfunk in einen beidseitig offenen Kommunikationsapparat zu wandeln und ihn vom reinen Zustand des Lieferantentums zu befreien, ist im Netz längst Wirklichkeit geworden. Diese Entwicklung hin zu masssenweiser Autorschaft (Norbert Bolz; Christian Hensen) muss nicht das Aus für qualitativen Journalismus bedeuten. Vielmehr ist er gefordert, noch besser zu werden und sich den Herausforderungen einer ernst zu nehmenden Gegenöffentlichkeit zu stellen. Zunehmend entdecken Zeitungsredaktionen die partizipativen Möglichkeiten, mit Lesern in Kontakt zu treten. So schreiben die Redakteure Weblogs, Twittern oder sind in sozialen Netzwerken aktiv. Es bleibt abzuwarten, ob sich Synergieeffekte entwickeln und wie man diese am besten nutzt. Eine Ignoranz neuer Medien von Seiten der alten Medien würde langfristig gesehen zur Selbstzerstörung führen. Das Internet-Manifest stellt fest, rüttelt wach, fordert. Es wurde bislang heftig diskutiert. Der Diskurs findet noch ausschließlich im Internet statt. Er muss diese Grenzen endlich überwinden!

Das Internet-Manifest wird nachfolgend in voller Länge „abgedruckt“:

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1. Das Internet ist anders.

Es schafft andere Öffentlichkeiten, andere Austauschverhältnisse und andere Kulturtechniken. Die Medien müssen ihre Arbeitsweise der technologischen Realität anpassen, statt sie zu ignorieren oder zu bekämpfen. Sie haben die Pflicht, auf Basis der zur Verfügung stehenden Technik den bestmöglichen Journalismus zu entwickeln - das schließt neue journalistische Produkte und Methoden mit ein.

2. Das Internet ist ein Medienimperium in der Jackentasche.

Das Web ordnet das bestehende Mediensystem neu: Es überwindet dessen bisherige Begrenzungen und Oligopole. Veröffentlichung und Verbreitung medialer Inhalte sind nicht mehr mit hohen Investitionen verbunden. Das Selbstverständnis des Journalismus wird seiner Schlüssellochfunktion beraubt - zum Glück. Es bleibt nur die journalistische Qualität, die Journalismus von bloßer Veröffentlichung unterscheidet.

3. Das Internet ist die Gesellschaft ist das Internet.

Für die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt gehören Angebote wie Social Networks, Wikipedia oder Youtube zum Alltag. Sie sind so selbstverständlich wie Telefon oder Fernsehen. Wenn Medienhäuser weiter existieren wollen, müssen sie die Lebenswelt der Nutzer verstehen und sich ihrer Kommunikationsformen annehmen. Dazu gehören die sozialen Grundfunktionen der Kommunikation: Zuhören und Reagieren, auch bekannt als Dialog.

4. Die Freiheit des Internet ist unantastbar.

Die offene Architektur des Internet bildet das informationstechnische Grundgesetz einer digital kommunizierenden Gesellschaft und damit des Journalismus. Sie darf nicht zum Schutz der wirtschaftlichen oder politischen Einzelinteressen verändert werden, die sich oft hinter vermeintlichen Allgemeininteressen verbergen. Internet-Zugangssperren gleich welcher Form gefährden den freien Austausch von Informationen und beschädigen das grundlegende Recht auf selbstbestimmte Informiertheit.

5. Das Internet ist der Sieg der Information.

Bisher ordneten, erzwungen durch die unzulängliche Technologie, Institutionen wie Medienhäuser, Forschungsstellen oder öffentliche Einrichtungen die Informationen der Welt. Nun richtet sich jeder Bürger seine individuellen Nachrichtenfilter ein, während Suchmaschinen Informationsmengen in nie gekanntem Umfang erschließen. Der einzelne Mensch kann sich so gut informieren wie nie zuvor.

6. Das Internet verändert verbessert den Journalismus.

Durch das Internet kann der Journalismus seine gesellschaftsbildenden Aufgaben auf neue Weise wahrnehmen. Dazu gehört die Darstellung der Information als sich ständig verändernder fortlaufender Prozess; der Verlust der Unveränderlichkeit des Gedruckten ist ein Gewinn. Wer in dieser neuen Informationswelt bestehen will, braucht neuen Idealismus, neue journalistische Ideen und Freude am Ausschöpfen der neuen Möglichkeiten.

7. Das Netz verlangt Vernetzung.

Links sind Verbindungen. Wir kennen uns durch Links. Wer sie nicht nutzt, schließt sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus. Das gilt auch für die Online-Auftritte klassischer Medienhäuser.

8. Links lohnen, Zitate zieren.

Suchmaschinen und Aggregatoren fördern den Qualitätsjournalismus: Sie erhöhen langfristig die Auffindbarkeit von herausragenden Inhalten und sind so integraler Teil der neuen, vernetzten Öffentlichkeit. Referenzen durch Verlinkungen und Zitate – auch und gerade ohne Absprache oder gar Entlohnung des Urhebers – ermöglichen überhaupt erst die Kultur des vernetzten Gesellschaftsdiskurses und sind unbedingt schützenswert.

9. Das Internet ist der neue Ort für den politischen Diskurs.

Demokratie lebt von Beteiligung und Informationsfreiheit. Die Überführung der politischen Diskussion von den traditionellen Medien ins Internet und die Erweiterung dieser Diskussion um die aktive Beteiligung der Öffentlichkeit ist eine neue Aufgabe des Journalismus.

10. Die neue Pressefreiheit heißt Meinungsfreiheit.

Artikel 5 des Grundgesetzes konstituiert kein Schutzrecht für Berufsstände oder technisch tradierte Geschäftsmodelle. Das Internet hebt die technologischen Grenzen zwischen Amateur und Profi auf. Deshalb muss das Privileg der Pressefreiheit für jeden gelten, der zur Erfüllung der journalistischen Aufgaben beitragen kann. Qualitativ zu unterscheiden ist nicht zwischen bezahltem und unbezahltem, sondern zwischen gutem und schlechtem Journalismus.

11. Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information.

Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen - sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

12. Tradition ist kein Geschäftsmodell.

Mit journalistischen Inhalten lässt sich im Internet Geld verdienen. Dafür gibt es bereits heute viele Beispiele. Das wettbewerbsintensive Internet erfordert aber die Anpassung der Geschäftsmodelle an die Strukturen des Netzes. Niemand sollte versuchen, sich dieser notwendigen Anpassung durch eine Politik des Bestandsschutzes zu entziehen. Journalismus braucht einen offenen Wettstreit um die besten Lösungen der Refinanzierung im Netz und den Mut, in ihre vielfältige Umsetzung zu investieren

13. Im Internet wird das Urheberrecht zur Bürgerpflicht.

Das Urheberrecht ist ein zentraler* Eckpfeiler der Informationsordnung im Internet. Das Recht der Urheber, über Art und Umfang der Verbreitung ihrer Inhalte zu entscheiden, gilt auch im Netz. Dabei darf das Urheberrecht aber nicht als Hebel missbraucht werden, überholte Distributionsmechanismen abzusichern und sich neuen Vertriebs- und Lizenzmodellen zu verschließen. Eigentum verpflichtet.
*) Stilblüten-Alarm aufgehoben

14. Das Internet kennt viele Währungen.

Werbefinanzierte journalistische Online-Angebote tauschen Inhalte gegen Aufmerksamkeit für Werbebotschaften. Die Zeit eines Lesers, Zuschauers oder Zuhörers hat einen Wert. Dieser Zusammenhang gehört seit jeher zu den grundlegenden Finanzierungsprinzipien für Journalismus. Andere journalistisch vertretbare Formen der Refinanzierung wollen entdeckt und erprobt werden.

15. Was im Netz ist, bleibt im Netz.

Das Internet hebt den Journalismus auf eine qualitativ neue Ebene. Online müssen Texte, Töne und Bilder nicht mehr flüchtig sein. Sie bleiben abrufbar und werden so zu einem Archiv der Zeitgeschichte. Journalismus muss die Entwicklungen der Information, ihrer Interpretation und den Irrtum mitberücksichtigen, also Fehler zugeben und transparent korrigieren.

16. Qualität bleibt die wichtigste Qualität.

Das Internet entlarvt gleichförmige Massenware. Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig und besonders ist. Die Ansprüche der Nutzer sind gestiegen. Der Journalismus muss sie erfüllen und seinen oft formulierten Grundsätzen treu bleiben.

17. Alle für alle.

Das Web stellt eine den Massenmedien des 20. Jahrhunderts überlegene Infrastruktur für den gesellschaftlichen Austausch dar: Die “Generation Wikipedia” weiß im Zweifel die Glaubwürdigkeit einer Quelle abzuschätzen, Nachrichten bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen und zu recherchieren, zu überprüfen und zu gewichten – für sich oder in der Gruppe. Journalisten mit Standesdünkel und ohne den Willen, diese Fähigkeiten zu respektieren, werden von diesen Nutzern nicht ernst genommen. Zu Recht. Das Internet macht es möglich, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die man einst Leser, Zuhörer oder Zuschauer nannte - und ihr Wissen zu nutzen. Nicht der besserwissende, sondern der kommunizierende und hinterfragende Journalist ist gefragt.

Internet, 07.09.2009

Wer dabei mithelfen möchte, diesen Text weiterzuentwickeln, kann das gerne hier tun.

[Update: ] Nachgereichter Beipackzettel von Stefan Niggemeier

Quelle: Internet-Manifest

Montag, 19. Oktober 2009

Frankfurter Buchmesse: Angst vor dem E-Book

Die Krise hat auch die Buchmesse in Frankfurt erreicht. Aber es gibt weder zu wenig gute Bücher noch gibt es zu wenig interessierte Leser. Die Krise betrifft das Dazwischen. Wie kann man Leser und Bücher über unterschiedliche Kanäle zusammenbringen? Und wie lässt sich dabei obendrein noch etwas verdienen? Antworten auf die Fragen verlangen nach einem Umdenken, nach einer Auflösung festgefrorener Strukturen, die einem von Bewegung abhängigen Buchmarkt die Dynamik entzieht. E-Book heißt das Gebot der Stunde. Gerade schon aus der Taufe gehoben, gilt es fast schon als Mythos. Es ist ein neues Medien-Dispositiv zwischen Hoffnung und Bangen. Vielen Verlegern treibt das E-Book gar die Angstperlen auf die Stirn - aus Sorge vor Urheberrechtsverletzungen durch illegale Downloads. Angesichts einer überschaubaren Zahl von 65.000 verkauften E-Books in Deutschland im ersten Halbjahr dieses Jahres, ist das E-Book bislang ohnehnin kein Frontalangriff auf das „physische Buch“ (zum Vergleich: In den USA werden 10 Mal so viele pro Woche verkauft). Vielmehr müssen beide Medienformen, das gedruckte und gescannte Buch eine sinnvolle Verbindung eingehen. Das pünktlich zur Buchmesse in Deutschland erhältliche Lesegerät „Kindle“ von Amazon ist ein wichtiger Schritt in die mediale Zukunft. Jedoch muss sich der Reader hinsichtlich Komfortabilität und Alltagstauglichkeit erst noch bewähren. Die Buchmesse muss zum Anlass genommen werden, einen öffentlichen Diskurs über digitalisierte Bücher und elektronische Formate zu führen. Zudem müssen Strategien für die Eindämmung der illegalen Nutzung entwickelt werden. Es schadet keineswegs, wenn sich die neue Regierung unter Kanzlerin Merkel dieses Projekt auf die Fahnen schreibt, denn nach Milliarden Einbußen auf dem Musikmarkt durch illegale Downloads droht nun das gleiche Dilemma für eingescannte Buchtitel. Auch diese können über einschlägige Filesharing-Programme mühelos aus dem Netz heruntergeladen werden. Viele E-Book-Verlage versuchen den illegalen Anbietern gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen und gleichzeitig das neue Medium E-Book den potentiellen Käufern näher zu bringen: Indem sie kostenlose Downloads ganzer Bücher auf den Verlagspages anbieten. Diese Präsente sind ganz nett, aber auch hier ist fraglich, ob sie nachhaltigen Erfolg bringen werden.
Auf der ersten „Tools of Change“ (TOC-) Konferenz am Rande der Frankfurter Buchmesse, auf der unter der Schirmherrschaft von Web 2.0-Erfinder Tim O´Reilly über die Digitalisierung des Buches diskutiert wurde, lautete denn auch die zentrale Botschaft: We just don´t know. Es gibt bislang noch keine Zahlen über einscannte Buchtitel, illegale Downloads und vor allem über deren Auswirkungen auf das traditionelle Buchgeschäft. Und zum Zahlenmangel gesellt sich der Erfahrungsmangel. Wie wird sich das E-Book entwickeln, welches Standartformat wird sich etablieren, welches Lesegerät wird sich durchsetzen, und gibt es in Europa überhaupt einen Markt für das elektronische Buch, eine Leserschaft, die wie in den USA ihr Geld auch für E-Books auszugeben bereit ist? Wie bereits erwähnt, sind 65.000 hierzulande verkaufte E-Books nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die zentrale Frage muss lauten: Wie kann man potentielle Käufer für das Medium E-Book nicht nur gewinnen, sondern sie auch begeistern: Ein paar Punkte könnten etwa sein: 1. Das E-Book auf dem Reader gelesen, vergilbt, verknickt, verblasst nicht. Es ist dauerhaft archivierbar. Sofern eine sichere Datenhaltung garantiert ist. 2. Es kann auf dem beleuchteten Display vielleicht komfortabler gelesen werden, als ein Buch im Halbdunkel des Zuges. Die Taschenlampe unter der Bettdecke hat also ausgedient. 3. Der Reader ist leichter als das Buch. Und er beherbergt nicht nur ein einzelnes Buch, sondern hat Platz für eine ganze Bibliothek. Das Bestreben, das gesamte Weltwissen portabel zu machen, trägt die ersten Früchte. Die Hochleistungsscanner von Google laufen auf Hochtouren. Die Anwälte und Verlagschefs geben sich millionenfach die Klinke in die Hand. 4. E-Books sind größtenteils günstiger als gedruckte Bücher und könnten so mehr Käufer anlocken. 5. Sie könnten zudem attraktiver sein, wenn die Verlage – wie bei DVDs - Bonusmaterial zusätzlich anbieten würden. 6. Schließlich trägt der Reader multimedialen Anforderungen Rechnung, und kann Text ebenso wie Hörbücher und Bildmaterial abspielen. So könnte Lesen in Zukunft zu einem multimedialen, alle Sinne ansprechenden Erlebnis werden, wenn man seine Vorteile in einer digitalen Leseumgebung zu nutzen weiß. In diesem Zirkus sind alle Akteure gefragt: Verleger, Politiker, Juristen, Marketingstrategen, Programmierer, Wissenschaftlicher, Psychologen… und schließlich die Leser selbst. Bleibt nur zu hoffen, dass Apple und Konsorten nicht auch noch einen Reader mit Telefonfunktion auf den Markt werfen. Das würde auch dem E-Book schon den Garaus machen, bevor es sich etabliert hat.

Freitag, 16. Oktober 2009

Die FDP und ihr gefährliches Spiel mit der Freiheit

Die Koalitionsverhandlungen zwischen CDU, CSU und FDP kommen nicht voran. Es fehlt ein klares Konzept, fehlen Lösungen zu gegenwärtigen innenpolitischen Krisen. Noch gibt es kein Rezept für eine Novellierung des Gesundheitsfonds, für die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke oder die Senkung der Steuern. Angesichts eines Haushaltsdefizits von mehr als einer Billion Euro sind starke Ausgabenkürzungen vor allem bei Rentnern und Hartz IV-Empfängern langfristig gesehen unumgänglich, will man sich einer neuen EU-Mahnung entziehen. Nachdem das Schonvermögen für Hartz IV-Empfänger auf 750 Euro angehoben wurde, gibt es nun ein zweites endgültig beschlossenes Papier der neuen Koalition. Die FDP konnte sich im Streit um die Computersicherheit durchsetzen und stimmte selbst Hardliner Wolfgang Schäuble (CDU) gnädig: Online-Durchsuchungen dürfen künftig nur unter strenger richterlicher Genehmigung und nur im Falle akuter Lebensgefahr durchgeführt werden. Eine Regelung, die so zwar auch im aktuellen Gesetzentwurf von SPD und CDU formuliert gewesen ist, allerdings müssen private Durchsuchungen des Computers jetzt von einem Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof genehmigt werden und dürfen nicht von anderen Behörden angeordnet werden. Auch die unreflektierte und äußerst fragwürdige Sperrung kinderpornografischer Seiten im Internet - das letzte große Ass der Ursula von der Leyen (CDU) – wird sprichwörtlich gestoppt und durch eine Löschung entsprechender Inhalte ersetzt. Die private Lebensführung soll zunehmend geschützt werden, weshalb auch Lausch- und Videoangriffe untersagt sein sollen. Vorrätig gespeicherte Verbindungs- und Kommunikationsdaten sollen nur im Falle „akuter Gefahr für Leib und Leben“ zur Verfolgung von Straftaten herangezogen werden. Des Weiteren dürfen Journalisten künftig aus geheimen Papieren zitieren. Die Verhandlungsführerin der FDP Sabine Leutheusser-Schnarrenberger sagte, es sei gelungen, in diesem sensiblen Bereich die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit herzustellen. Dem stimmten Schäuble und der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl ausdrücklich zu. Schäuble sagte, es sei allen drei Parteien wichtig gewesen, eine Einigung in der Arbeitsgruppe herbeizuführen und nicht mit strittigen Punkten in die große Runde zu gehen. Die Ergebnisse seien mit Billigung von Kanzleramtschef Thomas de Maizière verkündet worden.
Ungeachtet schwieriger Verhandlungen in den politischen Problemfeldern, hat die Koalition aber nur scheinbar einen ersten nennenswerten Beschluss auf den Weg gebracht, der in eine optimistische, weil freiheitsbejahende Zukunft weisen soll. Rasend schnell haben die Liberalen begriffen, wie unausweichlich eine Orientierung in Richtung Mitte ist. Schon jetzt scheint sie sich vom Image der „Klientelpartei“ befreien zu wollen. Mit einem strikteren Gesetz zur Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken oder einer wettbewerbsfreundlicheren Gesundheitsreform könnte der einst kleinen FDP der nächste "große Wurf "gelingen. Die neuen Regeln zur Computersicherheit waren nicht all zu schwer zu realisieren, zu offensichtlich waren die Freiheitsbeschneidungen unbescholtener Bürger durch ein auf zu großer Vorsorge basierendes Konzept. Allerdings darf nicht außer Acht gelassen werden: Abgeschafft ist die Internetkontrolle nicht. Weder die Online-Durchsuchung noch die Vorratsdatenspeicherung sind wirklich außer Kraft gesetzt worden, sie wurden bei näherem Hinsehen lediglich etwas abgemildert. Eigentlich wollte sich die FDP, allen voran Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, gegen eine unter Staatskontrolle gestellte Informationsfreiheit wehren. Das ist ihr im Kern nicht gelungen. Jetzt verkauft die FDP ihr neues Papier als Schlüssel, welcher der schwierigen Situation Rechnung trägt, einerseits der immer größer werdenden Internetkriminalität gerecht zu werden und andererseits die Lebensführung der Bürger nicht unnötig zu beschneiden. Leider nehmen die Entwürfe nur augenschleinlich Einfluss auf die Lebensführung der Bürger. In der Sache ändert sich fast nichts. Die Entwürfe mögen immerhin ein Vorstoß in die richtige Richtung sein. Vielleicht sind sie ein Teilerfolg der FDP. Doch, wenn Augenwischerei zum Koalitionskonzept wird, werden die Wähler um ihre Stimme geprellt und Politik verliert noch mehr an Substanz als zuvor. Dann treibt die FDP ein gefährliches Spiel mit der Wahrheit und der Freiheit gleichermaßen, bei dem am Ende nicht nur sie selbst sondern auch Deutschland verliert!

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Obama´s Welt: Kleiner Preis für große Visionen

Die Rhein-Zeitung titelt "Nobelpreis für Obamas Traum vom Frieden", die Süddeutsche nennt ihn den "Nobelpreis für die Hoffnung". Kommentatoren und Kritiker sind sich einig: Der vom Nobel-Komitee in Oslo verliehene Friedensnobelpreis an US-Präsident Barack Obama ist verfrüht verliehen worden und gilt als Vorschusslorbeer. Nicht einig sind sich erwartungsgemäß Demokraten und Republikaner. Während die einen laut jubeln und ihren Präsidenten in den Himmel loben, sprechen die anderen von einer unverdienten Auszeichnung, Obama müsse seinen Worten erst noch Taten folgen lassen. Beide Positionen haben einen wahren Kern. Alfred Nobel hat in seinem Testament ausdrücklich die Friedensbemühungen als preiswürdig festgelegt. Und bei aller Kritik und Polemik: Obama hat die Welt bereits verändert, hat sie bereits ein Stück weit verbessert. Seine Bestrebungen, der islamischen Welt die Hand zu reichen, Verhandlungen zwischen Israel und Palästina zu beeinflussen, sowie Gespräche über eine weltweite atomare Abrüstung zu führen, sind nicht selbstverständlich. Vor allem nicht in dieser Schnelligkeit, Stringenz und rhetorischen Sorgfalt. Schon unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Januar 2009 bereiste er die Krisenherde der Welt und mimte den verständnisvollen, feinfühligen Zuhörer. Als konsequenter Zupacker hat sich der mächtigste Mann der Welt indes noch keinen Namen gemacht. Auch wenn die Raketenstellungen in Russland aufgegeben wurden, müssen Atomabrüstungsprogramme erst noch auf den Weg gebracht werden. Der ehrenwerte – und längst überfällige - Vorsatz, gemeinsam mit China die Emmissionsraten entscheidend zu senken, muss denn auch verbindlich in Schriftform festgelegt und schlussendlich befolgt werden, damit Klimapolitik keine Klimarhetorik bleibt. Und auch wenn Obama die Bankentransparenz fordert und größeren staatlichen Einfluss auf den amerikanischen Geldmarkt nehmen will, war er in Sachen Manager-Boni auf dem Wirtschaftsgipfel in Pittsburgh nicht gänzlich auf die Linie der Bundesregierung zu bringen. Seine ersten Dämpfer hat Obama ausgerechnet bei innenpolitischen Problemfeldern erhalten. Sein Großprojekt einer einheitlichen Gesundheitsreform, die allen Bürgern eine Krankenversicherung garantieren soll, hat nach harscher Kritik und Straßenprotesten eine wichtige Abstimmungsrunde im Kongress mit 14 gegen 9 Stimmen genommen. Dennoch sind Nachbesserungen und reformferne Zugeständnisse unumgänglich, um eine Beschlussfähigkeit zu erreichen. In der Rassismusdebatte kommt Obama bislang keinen nennenswerten Schritt voran.

Besonders die innenpolitische Realität beweist, dass Obama nicht der Messias ist, für den ihn anfangs die Medien gehalten haben, und jetzt das Nobel-Komitee hält. Nun ist die messianische Erwartungshaltung offiziell verankert. Und es scheint gar, als versuche man der Heilsbringungen einen kleinen Schups geben zu wollen, die Erfüllung ein bisschen voranzutreiben. So funktioniert natürlich keine Politik. Weder zu Helmut Schmidts Zeiten, dessen Annäherungsversuche an die Ostblockstaaten 1971 ebenfalls geehrt worden waren, bevor er überhaupt Taten folgen ließ, noch zu Obamas Zeiten. Obama selbst muss den Preis als Bürde sehen, die nun auf ihm lastet. Allerdings ist er Profi genug, sich nicht beeinflussen oder lenken zu lassen. Er verfolgt eine klare Linie und nimmt einen kleinen Preis am Wegesrand gerne dankend in Empfang. Die Probleme löst dieser Preis alleine nicht. Und Obamas Motivation wird er nicht steigern. Ohnehin macht Obama immer wieder deutlich, dass nicht er alleine globale Konflikte lösen kann, sondern dass nur eine Zusammenarbeit aller Staatenführer und Länder zum Ziel führen kann. Auch wenn der Preis den USA eine Vormachtstellung bescheinigt, so ist sich Obama bewusst, dass er auf Verbündete angewiesen ist. Seine Politik des Miteinanders wiegt mehr als ein One-Man-Preis. Angesichts ernsthafter globaler Krisen wirkt eine „Auszeichnung“ ohnehin perfide. Obama hat alle Hände voll zu tun. Gerade tagte er im „Situation Office“ mit seinen Beratern, um über eine Aufstockung der Soldaten in Afghanistan zu beraten. Nach dem erschreckenden Bericht des Kommandanten der US-Soldaten General McChrystal ist diese zwingend erforderlich, um der wachsenden Bedrohung durch die Taliban Einhalt zu gebieten. Im Gespräch ist eine Aufstockung von bis zu 40.000 US-Soldaten. Kritiker befürchten, dass dennoch keine Verbesserung der Lage zu erwarten sei. Es wird gar von einem zweiten Vietnam gesprochen. Ob Obama also ein würdiger Preisträger ist, bzw. ob er überhaupt ein würdiger Preisträger sein kann, wird er – wie im Falle der Atomabrüstung und auch der Weltbefriedung - nicht einmal beweisen können. So gerne er es würde. Und so scheint dieser Preis selbst, so aufrüttelnd er ist, nichts weiter zu sein als eine gut gemeinte aber schlecht durchdachte Utopie.

Mittwoch, 30. September 2009

Bundestagswahl 2009: Farben, Fallen und die FDP

Die beiden großen Volksparteien haben ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielt. Die CDU hat sich quasi – wie die RP richtig bemerkt – zum Wahlsieg verloren. Diese Paradoxie wird sich wahrscheinlich auch in der Regierungsarbeit widerspiegeln. Schon kurz nach der Wahl mehrten sich die Stimmen, Parteivorsitz und Kanzleramt sollten besser getrennt werden. Vor allem blickt alle Welt auf die Vergabe der Ministerposten. Wird Guido Westerwelle tatsächlich deutscher Außenminister? Wird er Verhandlungen in den USA, Russland oder China führen können? Angesichts seiner akuten Fremdsprachenschwäche, und seiner schlichten Unkenntnis selbst von der englischen Sprache, lassen Zweifel aufkommen. Und auch das westerwellesche Wesen eines zwar guten Rhetorikers aber nicht wirklich ernsthaften Staatsmannes macht die Sache nicht einfacher. Innenpolitisch steht indes fest: Die Zeiten für Merkel werden noch ungemütlicher als in der großen Koalition. Zickereien sind vorprogrammiert, und sie werden keineswegs von Merkel kommen! Wie dir RP weiter schreibt, ist die FDP zwar noch keine Volkspartei, wohl aber eine „Vollpartei“, gigantische 14 Prozent sprechen für sich. Die Bundestagswahl 2009 ist ein Richtungswechsel, der, wenn man ihn weiter denkt, das Aus der großen Volksparteien sein könnte. Die kleinen Fraktionen, vor allem die Linke haben enorm zugelegt, selbst die Piratenpartei hat es aus dem Stand auf 2 Prozent gebracht. Vielleicht ist ein Gegengewicht zu den großen Volksparteien gut, und vielleicht kann der Streitwille einer starken Opposition der politischen Sache, also inhaltlichen Auseinandersetzung dienlich sein. Es steht jedoch weiterhin zu befürchten, dass personelle Querelen und persönliche Eitelkeiten sowohl den Bürgerwillen untergraben als auch die politische Führung Deutschlands überschatten werden. Politik in der Sackgasse? Ist auch der bewussten - und massenhaft getroffenen - Entscheidung des Nichtwählers Respekt zu zollen? Nichtwähler tun dem Land besser als Linkswähler! Insofern hätte man vielleicht dazu aufrufen sollen, am Sonntag nicht zur Wahl zu gehen!
Jetzt erleben wir fast demütig den Niedergang der SPD. Tigerenten und Biene-Mayas, welche den Abgeordneten unbeschwerte Kindheiten bescherten, werden ihnen im Alter zu Ikonen des Scheiterns, ja, zu Symbolen des Schreckens, zum Damoklesschwert der Politik. Und das gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten, in denen Arbeitsplatzverlust und soziale Ungerechtigkeit das Tagesgeschehen bestimmen. Die Wahl hat gezeigt: Die Menschen im Land dürsten nach zuverlässigen Werten, nach einer starken Hand, die gleichzeitig zupacken kann und einfach nur schützend über den Köpfen schwebt. Das ist sie die bürgerliche Hand, die sich versucht auf die Mitte zu zu bewegen. Das wird ihr gelingen, wenn sie sich jetzt nicht an Sondierungsgesprächen – auch auf NRW-Ebene – festbeißt und dem kindischen Farben- und Bilderspiel (schwarz-gelb, rot-rot, grün,/Jamaika, Ampel, Tigerente…) gut durchdachte und nachhaltige Inhalte entgegen setzt. Die Zeiten sind ernst. Nicht gegeneinander, sondern Miteinander muss die Devise lauten. Krisen bewältigt man nur mit vereinten Kräften. Es gibt viel zu tun für Merkel und Westerwelle! Der Wähler hat entschieden. Packen Sie es an!

Freitag, 18. September 2009

Harald Schmidt: Der Großmeister ist zurück!

Folgt nach Kachelmann in Zukunft der neue Letterman? Der ARD-Wetterexperte überließ die Zuschauer in Schmidts Hände mit den Worten: "Ich kenne niemanden, der überhaupt noch mit Bart moderiert. Und wir hoffen alle, dass er sich rasiert hat", sagte einer, der selbst ob seines gesichtlichen Haarwuchses in kritisches Visier genommen worden ist. Fast demütig, devot, platzräumend brachte er den Satz: "Freuen Sie sich auf Harald Schmidt" über die Lippen. Der Großmeister der Anspruchs-Unterhaltung ist wieder da! Und was war das für ein Auftakt für eine Sendung, von der man nicht mehr viel zu erwarten hatte, oder nicht mehr viel erwarten konnte. Zugegeben, nach dem Abtritt von Oliver Pocher konnte es nur aufwärts gehen mit "Deutschlands Polit-Magazin Nummer Eins". Aber die Messlatte vor dem Start gestern Abend setzte der "Edel-Entertrainer" (Süddeutsche) selbst erwartungsgemäß hoch. Nicht mehr mit zweifelhaften Showgrößen und Medienstars wolle sich Schmidt künftig unterhalten. Stattdessen ziehe er es vor, Unternehmer zu Wort kommen zu lassen.

Überraschenderweise hielt er, was er versprach. Und als der Trigema-Chef Wolfgang Grupp das Studio 449 in Köln betrat, fand eine eh schon gelungene Sendung ihren Höhepunkt. Harald Schmidt soll jetzt endgültig das Label für richtige Late Night im Stile eines Jay Leno oder David Lettermans sein - deren legendäre Show "Late Night" im März erst von Neuling Jimmy Fellon übernommen worden ist - das zeigte schon der Vorspann der Sendung. Großstadtflair zu nächtlicher Stunde wollte dieser suggerieren und setzte sich konsequent in der Studiokulisse mit leuchtenden Lichtern der Skyline fort. Schmidt lief gleich zu Beginn zur Hochform auf: "Ich finde, einmal hat es richtig gefunkt in diesem Wahlkampf: Das war die Landung von Müntefering." Oder: "Wenn er das Wahlduell noch gesehen hätte, hätte Michael Jackson kein Propofol gebraucht." Harald Schmidt brachte es auf den Punkt. Dann zeigte er ein Bild, auf dem die Eingangstür der Agentur für Arbeit mit dem Wahlslogan "Wachstum schafft Arbeit" überschrieben wurde, um rumänische Arbeiter nach Deutschland zu locken. Ein Schelm, der Böses dabei dachte. Nicht nur eine Kombination aus den Rüttgers-Entgleisungen vergangener Tage und dem CDU-Wahlslogan, sondern zugleich ein subtiler Kommentar, der beinahe das vielfach kritisierte "Nazometer" wieder in Erinnerung rief. Umweltminister Gabriel nannte er den "Asketen von Niedersachsen", Dieter Althaus den "Geist vom Landtag in Thüringen". Der Zusammenschnitt der Wahlwerbefilme von CDU und SPD war ein gekonnter Wink in Richtung Große Koalition. Weitere Einspieler wie etwa zum "Schweinegrippenjournalismus" sprachen vielen Zuschauern aus dem Herzen. Die Schmidtsche Erklärung zum Afghanistan-Einsatz blieb jedoch substanzlos und unverständlich: "Für die einen Krieg, für die anderen eine Art Hausaufgabenbetreuung mit Maschinenpistolen", hieß es da. Und weiter: "Der Befehl zur deutschen Einheit kam unmittelbar aus einer Höhle in Afghanistan." Der Late-Night-Talker zeigt dazu einen Einspieler, in dem Al-Kaida-Anführer Osama bin Laden eine Botschaft verliest. Der Ton dazu war dem amerikanischen Präsident Ronald Reagan entliehen, der 1987 am Brandenburger Tor jene Worte an den Präsidenten der Sowjetunion richtete: "Mister Gorbatschow, open this gate, tear down this wall." Als dann soziale Netzwerke in Beschlag genommen wurden - "die Zuschauer holen sich den Journalismus von den Plattformen" - und der Philosoph Boris Groys mit den Worten zitiert wurde "Was wir haben, ist eine Kultur, in deren Mitte sich so etwas befindet wie ein Grab für einen unbekannten Zuschauer", widmete er per Video den "Usern von Twitter und Facebook" ein anonymes Grab, auf dem ein Laptop niedergelegt wurde. Anschließend gedachte er der unzähligen "klicklosen Homepages und Blogs" im Internet. In der anschließenden Hyperschnell-Konversation über die Regisseurin Andrea Breth, in der zufällig Namen wie Michel Foucault oder Jean Baudrillard fielen, wirkte der Zusammenhang leider verkrampft und undurchsichtig. "Star-Reporterin" Katia Bauerfeind, die es nach Polylux zuletzt mit einer Internet-Sendung nach 3Sat schaffte, überzeugte fürs erste, sowohl in Einspielern als auch live im Studio. Dort pries sie gemeinsam mit Schmidt Terrantinos "Inglorious Bastards" als Liebesschnulze an, wonach der Kinoschocker Lars van Triers Antichrist mit Bullis Wicki-Film gekreuzt wurde. Kombinatorische Höchsleistung mit künstlerischen Ansprüchen durfte man dieser Auftaktsendung wohl irgenwie bescheinigen. Schließlich gab der Unternehmer Wolfgang Grupp ein überraschend symphatisches und moralisch einwandfreies, schlagfertiges und äußerst gewitztes Gegengesicht zur Finanzkrise ab. Natürlich trat Schmidt, erneut mit Bart, gewohnt jovial auf, doch verlieh er seiner Erscheinung diesmal die nötige Substanz, die einen Abend - auch zu später Stunde - noch kurzweilig, beinahe nachhaltig werden ließ. Nur bei Momenten wie dem Interview mit dem imaginären Bruder Peter Scholl-Latours in Fidel Castro-Montur musste man sich der eigenen peinlichen Berührtheit hingeben. Ansonsten konnte man sich vertrauensvoll in die Hände des Conferenciers begeben, ja fast Fallenlassen war möglich. Wenn das so weiter geht, dann hat er endlich seine Form gefunden, die er so lange gesucht hat!

Dienstag, 15. September 2009

TV-Duell: "Wahlkampf für Kenner"

Frank-Walter Steinmeier hatte ganz recht, als er sagte: „Schauen Sie genau hin.“ Auch wenn 42 Prozent der (nur) 15 Millionen Zuschauer im Fernseh-Duell zwischen Kanzlerin und Vizekanzler keinen inhaltlichen Unterschied zu sehen vermocht haben, so war er gewiss da. Focus-Chefredakteur Helmut Markwort sagte ebenfalls ganz richtig: "Das ist ein Wahlkampf für Kenner." Und natürlich redet die vier Jahre der großen Koalition keiner weg. Liebe fragenden Journalisten: Große Koalition bedeutet gemeinsames Regieren. Das kann auch kein Beteiligter, bstreiten, sofern er nicht sein eigenes Arbeitswerk untergraben und die großen Entscheidungen vom Elterngeld und Ganztagsschulen über Kurzarbeit und Gesundheitsfond bis hin zur Abwrackprämie und der Opel-Rettung dem politischen Gegner allein zuschreiben will. Und in der Tat hat die große Koalition auch gute Politik gemacht – nicht nur im Ausland. National ist sicher der – erst späte, dann aber entschiedene - Umgang mit der Wirtschaftskrise zu nennen. Auch wenn der tiefe Fall der Autobranche noch bevorsteht. Außenpolitisch konnte Merkel die Herren Obama und Sarkozy nicht nur umschmeicheln, sondern sie auch dazu bringen, in Sachen Bankentransparenz, Afrika-Unterstützung und Umweltpolitik an einem Strang zu ziehen. Die Atomprovokationen von Nordkoreas Machthaber Kim Jong-il verurteilte sie ebenso entschieden wie den israelischen Siedlungsbau Nitnajahus. Den von der Bundeswehr befohlenen Angriff auf die beiden von den Taliban umlagerten Tanklaster versuchte sie weder abzuwiegeln noch allzu schön zu reden, sondern fand geeignetere, klügere Worte als ihr eigener Verteidigungsminister Frank-Josef Jung. Dass der auch nach der Bundestagswahl im Amt bleibt, gilt als höchst unwahrscheinlich.
Die richtigen Worte finden. Das gelang der Amtsinhaberin im TV-Duell weniger gut als dem Herausforderer Steinmeier. Der lief besonders in der ersten Hälfte zur rhetorischen Höchstform auf, sprach die Wähler immer wieder an, formulierte kurze und prägnante Sätze und zauberte auch außerpolitische Schönworte aus dem Hut, von denen die Kanzlerin nicht einmal gehört haben mag. Rhetorisch war das mithin eine Lehrstunde und man fühlte sich an alte Schröder-Zeiten erinnert – obschon sich die Zeiten gewandelt haben. Steinmeier war angriffslustig, blieb aber fair. Vielleicht erwarten deutsche TV-Journalisten eher eine Schlammschlacht als einen sachlich und nüchtern geführten Wahlkampf. Gleichwohl zeigte Steinmeier zum ersten Mal so was wie Leidenschaft. Aber immer wieder dreschten die Fragenden in die "Diskussion" und unterbrachen selbst die Kanzlerin mitten in ihren Ausführungen. Eine Benotung der „sozialen Gerechtigkeitslage“ in Deutschland war ebenso absurd wie von einer Tigerentenkoalition zwischen CDU und FDP zu sprechen. Dass eine solche infantile Bezeichnung dem Ernst der Lage nicht gerecht wird, insistierte Merkel zu Recht. Allerdings war es seltsam zu hören, dass sie sich tatsächlich bereits auf ein FDP-Bündnis festgelegt zu haben scheint. Westerwelle als neuer Außenminister? Das wäre wohl der Super-Gau. Da hört man lieber wieder den Worten Steinmeiers zu und vernimmt verblüfft, wie kompetent der als zu seicht und unerfahren deklarierte SPD-Frontmann doch sein kann. Zugegeben, sich auf die Vermehrung von Arbeitsplätzen und den Atomausstieg zu versteifen, reicht inhaltlich nicht an die Ausführungen von Merkel heran, die nichtsdestoweniger ihren Amtsbonus auszuspielen wusste. Wer von beiden aber jetzt die „soziale Gerechtigkeit/Marktwirtschaft“ gepachtet hatte, das wusste der geneigte Fernsehzuschauer nicht so recht. Beide haben für sich beansprucht, Wachstum generieren und Arbeitsplätze schaffen zu wollen. Aber auch hier gab es entscheidende Unterschiede, die auch die Journalistenriege nicht überhört haben kann: Merkel will richtigerweise eine Steuersenkung, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und den potentiellen Käufer zu ermutigen. Steinmeier lehnt das mit Blick auf das Haushaltsdefizit und dem Finanzminister im Rücken ab. Am Schluss riss die Kanzlerin das Ruder wieder an sich. Ob die Verantwortlichen der Wirtschaftskrise ungeschoren davon kommen, wählte man die CDU, wie Steinmeier in seinem Schlusswort prophezeite, sei dahin gestellt. Immerhin sprach die Kanzlerin kurz von Familie und Bildung. Zwei zentrale Themen, denen die Moderatoren des Duells nicht den Hauch einer Aufmerksamkeit widmeten. Das ständige, äußerst unhöfliche Unterbrechen und der Wunsch, ein Feuer zu entfachen, wo nicht mal eine Glut sich anbahnte, schien den Fragenden wichtiger als sachliche und zu Ende gedachte Ausführungen der Befragten. Überhaupt war das ein Fernsehduell zwischen Journalisten und Politikern, bei dem nicht Deutschland verloren hat, wie anschließend attestiert wurde, sondern die Journalisten: Statt einer sachlichen Diskussion Raum zu geben, wollten alle ihrem eigenen Image gerecht werden: Plasberg fragte hartnäckig und stellte raffinierte Fallen, Maybritt Illner ließ nicht ausreden und wollte Polit-Talk generieren, Peter Kloeppel versuchte mit brisanten Fragen die Duellanten zu bewegen, wobei die Dienstwagenaffäre ebenso ausdiskutiert ist wie das Ackermann-Geburtstagsessen, und Peter Limbourg hielt sich zurück und meinte analysierend während der Sendung, eher ein „Duett statt ein Duell“ und ein „Ehepaar“ statt politische Gegner ausgemacht zu haben. Hier hat das Medium über den Inhalt entscheiden, war das Medium die Botschaft selbst, wie einst McLuhan medienwissenschaftlich konstatierte. Das Fernsehen würde Sachlichkeit und Konsens nur allzu gerne gegen Angriff und Dramaturgie eintauschen. Den entscheidenden Unterschied vergessen die Macher in diesen Tagen wieder besonders – wohl ob ihres blinden Flecks: Den zwischen medialer Regeln und politischer Relevanz. Und auch die Entlarvung von der Akte-Sendung, über Domian bis hin zu Quizsendungen durch die Politposse Horst Schlemmers bemerken nicht mal ihre Erschaffer. Das ist ein Wahlkampf für Kenner!

Freitag, 11. September 2009

Killerspiele: Wie Gewalt im Kopf entsteht

Da wurde so lange von „Wiederaufbauhilfe“ statt von „Krieg“ gesprochen und jetzt das. Über 50 Zivilisten könnte die Deutsche Bundeswehr in Afghanistan auf dem Gewissen haben, weil sie einen Befehl zum Luftangriff auf zwei von den Taliban belagerten Tanklastern gegeben hat. Die darauf gefolgte Abwiegelungstaktik von Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung gleicht einer Farce. Wiederholt äußerte er, dass sich keine Zivilisten unter den Opfern befunden hätten. Man fragt sich, wie es dem Oberbefehlshaber (und dann auch Jung) möglich gewesen ist, Zivilisten von Taliban-Kämpfern zu unterscheiden, wo letztere eben nicht in Kriegsmontur sondern bewusst zivil zu Felde ziehen. Noch dazu geschah der Angriff in nächtlicher Dunkelheit, nicht etwa am Tag. Seine Tage im Amt sind jedenfalls gezählt. Und es besteht kein Zweifel: Es ist Krieg in Afghanistan. Und die Deutsche Bundeswehr ist mitten drin als zweit wichtigster Akteur im Kampf gegen den Terror. Denn „Wiederaufbauhilfe“ ist zugleich „Gewaltabbauhilfe“. Dass die Taliban westliche Demokratiesemantik nicht versteht, dürfte klar sein. Mit der Sprache der Waffen begegnet man den Taliban-Milizen dagegen auf Augenhöhe. Und das ist das Mindeste, was man tun muss. Zivilisten zu schützen muss aber Vorrang haben – noch dazu in diesem als “sauber“ deklarierten Krieg, in dem modernste Luftabwehr-, Aufklärungs- und Raketensysteme im Einsatz sind, die an Treffsicherheit Vietnam- und Golfkrieg in den Schatten stellen sollen.

Krieg findet aber nicht nur draußen, sondern auch in heimischen Wohn-, besser Kinderzimmern statt. Killerspiele schimpfen sich virtuelle Plattformen - mit zunehmendem Live-Charakter dank Internet-Direktübertragung und weltweiter Vernetzung der Spieler - auf denen Krieg simuliert wird. Er wird sogar sprichwörtlich in die Hand genommen: Am eigenen Joystick. Nicht erst nach den jüngsten Amokläufen - Erfurt (2002) und Winnenden (März 2009) wurde darüber spekuliert, ob eine Korrelation zwischen Spielekonsum und Amokverhalten besteht.

Prof. Dr. Bernhard Bogerts sagt Ja. Allerdings seien dafür auch eine Reihe anderer Dispositionen notwendig. Der in Bingen geborene Psychiater bestritt mit seinem Vortrag "Gehirn und Verbrechen - Neurobiologische Erklärungsversuche für Gewalt, Terror und Völkermord" den Auftakt zum neuen Programm 2009/20010 des Wissenschaftlichen Vereins Mönchengladbach. Bogerts war von 1984 bis 1994 Oberarzt in der Psychiatrischen Klinik der Universität Düsseldorf (Rheinische Landesklinik). Seit 1994 ist er Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Der Referent betonte: „Für Gewalttaten gibt auch ganz andere Erklärungsansätze philosophischer, theologischer, juristischer Art, die hiermit nicht geschmälert werden sollen.“ Seine These untermauerte der Hirnforscher indes durch Bilder von Computertomografen und MRT-Messungen von Gewalttätern. Er zeigte die Hirnaufnahmen vom ersten Amokläufer Ernst August Wagner, der 1913 ebenfalls in Winnenden 17 Menschen getötet hat. Ebenso von RAF-Terroristin Ulrike Meinhof (1934-1976), sowie von unbekannten Gewaltverbrechern. Auf allen Bildern waren Veränderungen gegenüber einem gesunden Gehirn im limbischen System zu erkennen. Jener Funktionseinheit des Gehirns, die Emotionen, Triebe und Intelligenz steuert. Ein dortiger Fehler verursacht die Hemmung des Neokortex, in dem kulturelle und moralische Erfahrungen gespeichert sind. Das wiederum führt zu einer Aktivierung des archaischen Stammhirns (auch Reptilhirn genannt), das zuständig ist für Atmung, Reflexe, Selbsterhaltung. Bogerts folgert: „Aggressives Verhalten kann durch einen Fehler im limbischen System verursacht werden, obwohl keine Umwelteinflüsse vorhanden sind.“ Solche Schäden könnten entweder durch operative Eingriffe, etwa nach Entfernen eines Tumors, wie im Fall von Ulrike Meinhof, oder durch psychosomatische Störungen auftreten. Bogerts zeigte anhand von Untersuchungen, dass Gewaltbereitschaft zudem genetisch bedingt sein kann. Auch seien traumatische Kindheitserfahrungen und gewaltverherrlichende Ideologien (zweiter Weltkrieg) Auslöser von Gewalt. Hinzukommen müsse ferner ein auslösendes psychosoziales Umfeld. „Wenn mehrere Faktoren zusammenkommen, steigt die Gewaltbereitschaft exponentiell“, so Bogerts. Es lässt sich leicht erahnen, was einstudierte und gelebte virtuelle Kriegsszenarien im Kopf bei enstprechender Disposition und sozialen Umständen in Natura anrichten können.

Dienstag, 25. August 2009

Quentin Tarantino´s Rache an der Wirklichkeit

Im neuen Film von Kult-Regisseur Quentin Tarantino mögen sich ein furioser Brad Pitt und ein fragwürdiger Till Schweiger die Klinke in die Hand geben. Beiden stiehlt ein anderer die Show: Der deutsche Schauspieler Christoph Waltz wurde für seine Verkörperung des „zynischen Judenjägers“ und SS-Manns Hans Langa in „Inglorious Basterds“ bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem wohlverdienten Darstellerpreis ausgezeichnet. Im Interview mit dem Tagesspiegel äußerte er sich über seinen Regisseur, die Funktion einer Uniform und die Rolle des Films. In Tarantinos Werken spiegelt sich genau das wider, was die niederländische Autorin Nelleke Noordervliet kürzlich auf einer Lesung sagte – auch wenn sie sich auf ein anderes Medium bezieht: „Mein Roman liefert nur eine kondensierte, selektive Wirklichkeit. Aber er eröffnet den Blick auf die wirkliche Wirklichkeit da draußen. Und vielleicht verändert sich die Wirklichkeit des Lesers nach der Lektüre ja auch ein wenig.“ In ihrem Roman „Im Schatten von Pelican Bay“, der sich vor allem mit Schuld und Sklaverei beschäftigt und das 18. Jahrhundert mit der Gegenwart verknüpft, erzählt die Autorin nicht bloß eine Geschichte. Sie setzt sich auseinander mit Geschichte, dem Konflikt zwischen Erster und Dritter Welt, der Frage nach Schuld. All das dient der Suche nach der Wahrheit. Aber handelt es sich hier nicht um einen fiktiven Roman? Sie würde wohl der Antwort des Schweizer Schriftstellers Lukas Hartmann zustimmen, wenn er sagt: „Ich habe ins löchrige Netz der Fakten meine eigenen Fäden eingewoben.“
Und so sind die Filme Tarantinos nicht bloß eine Aneinanderreihung von Filmzitaten, was an sich schon künstlerisch sein kann. Indem er das Groteske der Wirklichkeit (ob vergangen oder gegenwärtig) an die Oberfläche holt, spielt und tanzt er mit ihr, dekonstruiert sie, gibt ihr eine neue Stoßrichtung, entlarvt sie und gibt sie nicht selten der Lächerlichkeit preis. So geschehen im aktuellen Werk „Inglorious Basterds“, in dem es ein Mal mehr um die scheußliche Niedertracht der Nazi-Zeit geht. Doch diesmal machen die Juden Jagd auf die Nazis. Tarantinos Wirklichkeit ist eine andere – und vielleicht zeigt sie ein neues Gesicht der Geschichte. „Tarantino bietet uns eine neue Möglichkeit, die sogenannte Wirklichkeit zu betrachten, und eröffnet eine neue Perspektive auf die Welt – es ist der künstlerische Prozess schlechthin. Die Forschung bestätigt ja zunehmend, dass erst die Perspektive die Wirklichkeit bestimmt. Das ist die Quintessenz dessen, was Kino kann“, sagt Christoph Waltz im Interview. Tarantino selbst, der beim letzten Filmtake das Set aus Trauer vor dem Ende verlassen haben soll, zeugt Waltz Respekt: „Jeder ist anders, zu jeder Minute, und Tarantino kann sich auf jeden einstellen. Er weiß für jeden die richtige Stimmung, die richtigen Gründe, die richtige Kommunikation. Darin ist er ein linguistisches und kommunikatives Genie.“
Im Gegensatz zu anderen Filmdarstellungen der Nazi-Zeit wie bei der enttäuschend hollywoodesken „Operation Walküre“ geht es Tarantino eben nicht nur um die Darstellung, sondern um die narrative Annäherung an Geschichte, die in eben dem Moment des Films neu entsteht. "Inglorious Basterds" ist nichts anderes als Quentin Tarantinos Rache an der Wirklichkeit, ein Feldzug der Vergeltung. Christoph Waltz sagt zu "Operation Walküre": „Solche Filme sind nicht nur kein Kunstwerk, sie sind auch keine Geschichtsbetrachtung. Sie sind, im besten Fall, Unterhaltung. Dadurch entsteht keine Wahrheit, sondern Selbstgerechtigkeit. Wir erklären unsere Geschichte für erledigt, indem wir uns mithilfe solcher Authentizitätsversicherungen auf der richtigen Seite wähnen. Wir lassen die Wunde nicht mehr aufreißen."
Tarantino tut das. Und genau das ist die ganz große Leistung des Ausnahme-Regisseurs, der nicht zuletzt dem Kino selbst eine Wende, ein neues Denken abverlangt. 3D-Leinwände werden ihr Übriges tun. Schon jetzt werden Blockbuster dem Auge mehrdimensional präsentiert und die Filme so produziert, dass sich die 3D-Wirkung besonders eindrücklich zeigt. Nur hilft es nicht, wenn visuelle Dreidimensionalität eine künstlerische, narrative und dramaturgische Eindimensionalität kaschiert.

Donnerstag, 13. August 2009

Informationsfreiheit unter Staatskontrolle

Es ist soweit. Rund 25 Jahre hat es gedauert, bis Politiker und Gesetzeshüter erkannt haben: Das Internet ist nicht nur Informationslieferant und Kommunikationsapparat. Es ist auch ein Verbreitungsinstrument für jedwede Form menschlicher Abgründe, bringt Abartigkeiten und Unvorstellbares an die Bildschirmoberfläche. Macht fremde Grenzerfahrungen im Handumdrehen zu eigenen. Oder wie es der neue Spiegel mit dem Titel „Wir sind das Netz“ schreibt: „So ist das Internet zwar die größte Befreiung des Geistes seit der Erfindung der Buchdruckerkunst, aber zugleich ein Massenspeicher für alle Übel, die Menschen sich ausdenken, vom schlichten Schmutz bis zu den schlimmsten Auswüchsen der Phantasie.“ Dass diesem Umstand Einheit geboten werden muss, ist ebenso undiskutabel, wie kinderpornografische Seiten blockiert werden müssen. Das Grundproblem aber bleibt das Gleiche. Statt den Zugang zu illegalen Inhalten zu verwehren, oder den Bürger gläsern zu machen, sollten die Inhalte selbst bekämpft und ihre Produzenten bestraft werden. Es ist nämlich nicht abwegig, dass Dinge, die einfacher Verfügbarkeit unterliegen auch wahrgenommen, vielleicht sogar aufgesucht werden. Neugierde treibt den Menschen an und ist eine essentielle Disposition für natürliche, menschliche Weiterentwicklung.
Nachdem also die Bundesregierung die Sperrung kinderpornografischer Seiten im Netz gesetzlich verankern will – die zuständige EU-Kommission hat indes das Gesetz noch nicht unterschrieben, rollt nun der zweite Staatsstreich auf die Bürger zu: Die Bundesregierung erwägt, sämtliche Internetnutzer mittels eines „Internetausweises“ kenntlich zu machen und ihn quasi über einen digitalen Fingerabdruck ausfindig zu machen – und zwar bevor er den erste Seite aufgerufen hat. Da ist es dann nur folgerichtig, dass das Surfverhalten dokumentiert wird und eindeutig dem jeweiligen Nutzer zugeordnet werden kann. Was die Gesetzesplaner vergessen: All das ist bereits Internetrealität. Denn über die IP- und MAC-Adresse eines jeden Rechners kann auch jeder Nutzer eindeutig identifiziert und zurückverfolgt werden. Darüber hinaus wurde die Vorratsdatenspeicherung erst im letzten Jahr von drei auf sechs Monate angehoben. Was die Freiheitsbeschneider und IT-Banausen ebenfalls ignorieren: Lange schon ist es gängige Praxis, über im Ausland stehende Proxy-Server blockierte Seiten abzurufen, oder sogar illegale Inhalte über fremde Rechner zu transportieren, ohne dass der PC-Besitzer davon etwas mitbekommt. Waren Vieren früher noch auf größte Aufmerksamkeit bedacht und auf sichtbare Zerstörungswut hin programmiert, sind sie heute auf ganz andere Weise subversiv. Sie agieren im Hintergrund, unsichtbar – und sie machen alles – nur nicht auf sich aufmerksam.
Die Technik war der Gesetzgebung schon immer voraus – im Übrigen auch ihren Nutzern. Nur in einem sind die Regierungen schneller: „Die Schriftsteller können nicht so schnell schreiben, wie die Regierungen Kriege machen; denn das Schreiben verlangt Denkarbeit“, wusste schon Bertolt Brecht. Das Internet ist da, es wurde vom US-Militär mit dem Ziel der dezentralen Datenübertragung geschaffen, gerade damit uneingeschränkte Kommunikation möglich wird. Jetzt wird die Dezentralität zum Damoklesschwert, weil grenzübergreifende Gesetzgebung schwierig zu realisieren ist. Das Kind ist in den Brunnen gefallen. Es herauszuholen scheint zwecklos, denn das Wasser war tief.
Der Spiegel hat zweifellos recht, wenn er schreibt: „Längst ist das Internet ein Paralleluniversum. Die Refugien der Diebe, Rufmörder, Kinderschänder entziehen sich weitgehend der Kontrolle des Rechtsstaats. Nur einer transnationalen Instanz kann es gelingen, Ordnung zu schaffen. Das Ziel: die globale Netzdemokratie.“ Auch in diesem Punkt hat der Spiegel recht: „Während an der Oberfläche des digitalen Reichs tausend bunte Blumen blühen, Shopping, Chats, Schöngeistiges, wuchert im Wurzelwerk darunter ein Pilzgeflecht aus Intrigen, Täuschung und Terror.“. Indem das Netz die Freiheit der Welt vergrößert, bedroht es gleichsam ihren Frieden. Allerdings ist es falsch, die Oberfläche, die Gesellschaft dafür zu bestrafen. Indem man sie in ihren Grundrechten der Informationsfreiheit und der freien Meinung beschneidet, lenkt man das Augenmerk noch weiter weg vom Untergrund. Ihn gilt es zu observieren und auszuheben, mit modernster Technik zu sprengen. Gerade damit die Oberfläche weiß bleibt. Um dem neuen Zeitalter gerecht zu werden, bedarf es zwar auch ein neues Bewusstsein. Doch, statt zu denken, fällen die Verantwortlichen Entscheidungen in Form von Paukenschlägen, die doch nur Ausdruck ihrer Panik sind. Denken ist oberstes Gebot. Die Früchte heutiger Denkarbeit muss ausgefeilte Technik sein, gepaart mit didaktisch und medial vermittelten Bewusstseinsveränderungen. Eine präventive General-kriminalisierung kratzt hier nur an der Oberfläche! Ab in den Untergrund und rein ins kalte Brunnenwasser! Nur so würde das Übel an der Wurzel gepackt und die Freiheit gewahrt!

Sonntag, 9. August 2009

Obama´s Welt: Die demokratische Mission

Just als der frühere US-Präsident Bill Clinton mit den beiden frei gelassenen Journalistinnen den amerikanischen Boden betritt und seine „humanitäre Mission“ für erfolgreich erklärt, übernimmt Obama das Ruder, das ihm elegant, wie von Geisterhand übergeben wurde. Schluss mit dem „provokanten Verhalten“ verschärft er zusammen mit UN-Generalsekretär Ban Ki Moon den Ton und fordert neue Gespräche im Atomstreit mit Nordkorea. Dass sich Kim Jong Il dazu durchringen kann, gilt angesichts der strategischen Vorarbeit Clintons als immer wahrscheinlicher. Auch wenn Hillary Clinton noch mal ausdrücklich betonte, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Freilassung der US-Journalistinnen und dem Thema Atomprogramm gebe. Auch für Nordkorea steht indes einiges auf dem Spiel. Das kommunistische Land könnte der internationalen Isolation entkommen, öffneten sie sich für neue Gespräche und ließen sie sich schließlich zu einem atomaren Abrüsten überreden. Das wiederum gilt angesichts der Reketen-Provokationen der vergangenen Monate als weniger wahrscheinlich. Die angestrebten Gespräche der USA sind zumindest ein Schritt in die richtige Richtung.

Unterdessen werden die Töne gegen den kürzlich vereidigten iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad erneut verschärft. Es scheint, als vergesse Obama seine eigenen Worte, wollte er ja vorbehaltlos auf den Iran zugehen. Doch sein neuerlicher Kurs zeigt nur, wie kritisch und komplex die Lage um einen möglichen Dialog mit dem Iran ist. Wie einen Schulterschluss mit Teheran eingehen, wenn der illegitime iranische Machthaber seine Tyrannei fortsetzt und regimekritische Demonstranten in einem zermürbenden Schauprozess zu mehrjährigen Haftstrafen, vielleicht sogar zur Todesstrafe verurteilen könnte. Kein Wunder also, dass die Iran-Politik des Weißen Hauses verwirrt. Vizepräsident Joe Biden würde sich einem israelischen Angriff auf die Atomanlagen Irans nicht in den Weg stellen, Außenministerin Hillary Clinton zeigte sich pessimistisch, dass Verhandlungen mit Teheran ohne Vorbedingungen erfolgreich sein würden, erst recht in Zeiten solch gravierender politischer Unruhen im Land. Es scheint fast so, als seien die Amerikaner nicht überzeugt davon, dass der Iran von seinen Atomplänen abrücken werde. Und das scheint angesichts der angespannten Weltlage genauso unwahrscheinlich wie das atomare Abrüsten Nordkoreas. Die Strategie Obamas zeichnet sich nur langsam ab, doch scheint es immerhin eine zu geben. Die lautet Annäherung ohne Vorbedingungen und ohne Verächtung der Vergangenheit bei gleichzeitiger Erhöhung des politischen Drucks bis hin zur Drohung von Militärschlägen. So muss Iran den Ernst der Lange erkennen und ihm gleichzeitig die Möglichkeit geboten werden, Verhandlungen führen zu können. Dennis Ross, der Iran-Beauftragte im Weißen Haus, der diesen „Hybrid-Ansatz“ schrieb in seinem Buch laut Süddeutsche Zeitung: Damit der Iran auch beim Einlenken sein Gesicht wahren könne, müsse er weiter Uran anreichern dürfen, jedoch unter strenger Überwachung. Diese Strategie scheint insofern sinnvoll, als dass gerade religiös motivierte Machthaber ihre eigene Menschenwürde nicht angetastet wissen wollen, obschon ihre Definition eine andere ist als die westliche.

Die US-Offerten Richtung Osten weiten sich schließlich auch auf China aus. Nur geht es hier weniger um sicherheitspolitische Interessen als um finanzielle. Bei keinem anderen Land stehen die USA so tief in der Kreide wie bei China. Angesichts einer Schuldenhöhe von mindestens 800 Milliarden Dollar können Menschenrechtsverletzungen schon mal bei Seite geschoben werden. Besser kleinlaut sein als vorlaut lautet hier die amerikanische Divise. Die weltpolitische Lage ist angespannter denn je. Machtstrategien kollidieren mit Friedensbemühungen, finanzielle Abhängigkeiten gerade in Zeiten der Krise verengen den politischen Handlungsspielraum. Die USA um Präsident Obama verhalten sich richtig. Wie eine kluge Raubkatze beobachten sie leise ihre Beute, die wenn sie schlau genug ist, nicht am Entkommen gehindert wird. Obama scheint bereit, aus seinen Worten auch Kampfansagen zu machen, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Die Gegenseiten sind am Zug!

Donnerstag, 6. August 2009

Obama´s Welt: Ein amerikanischer Traum für alle

Was für ein Sommer für Barack Obama. Nachdem er seinen 48. Geburtstag in Person und seinen ersten im Weißen Haus feiern durfte, und er um ein paar Jeans (so einer der vielen Vorschläge) reicher geworden sein dürfte, holte ihn die bittere Realität schneller ein als ihm lieb war. Auf dem G 20-Gipfel in London im April war die Stimmung noch perfekt, einigte sich Obama mit den Industrienationen darauf, ein Entwicklungspaket von 250 Milliarden Dollar über zwei Jahre zu schnüren. Auch beim G8-Vorzeige-Gipfel in Italien im Juli entschied man einvernehmlich die CO2-Emissionen bis 2020 um 15-30 Prozent zu senken. Auch der Schulterschluss mit Deutschland wurde immer enger: „Sie haben doch schon gewonnen“, war sich Obama im Juli sicher und sah die Kanzlerin auch in der zweiten Legislaturperiode auf sicherem Posten. Ein empfindlich getroffener Bürokrat wie Steinmeier konnte gar nicht anders, als alle Amerikareisen vorsorglich abzusagen. Auf heimischen Boden liegen die Dinge nicht ganz so einfach, lassen sich nicht als Symbolpolitik via Grundsatzrede händeln. Dort braucht es Handlung, so kurzfristig wie möglich. Denn 46 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung und brauchen eine, wollen sie behandelt werden. Die Gesundheitsreform dürfte zweifellos das größte innerpolitische Projekt des US-Präsidenten werden. Allen Amerikanern will er eine Krankenversicherung garantieren, doch könnte er dabei an der Kostenfrage scheitern, wie einst Bill Clinton, der das gleiche Wohlwollen verspürte. Fest steht: Ob Finanzkrise oder nicht, finanzielles Scheitern oder Gelingen, es muss etwas passieren. „Nichts tun ist keine Option“, weiß Obama und ist gewillt zu handeln. "Es ist eine Gelegenheit, wie sie vielleicht in Generationen nicht wiederkehrt," sagte Barack Obama am Samstag in seiner wöchentlichen Videoansprache. Deshalb solle der Kongress noch vor der Sommerpause im August ein Gesetz vorlegen, das das Gesundheitssystem der USA von Grund auf saniert. In den kommenden Tagen wird sich zeigen, ob Obama auch als Reformpräsident in die Geschichtsbücher eingehen wird. Das Problem: Die Krankenversicherung ist in den USA ausschließlich an den Arbeitsplatz gekoppelt, allerdings sehen sich viele kleine Unternehmen außer Stande, diese Leistungen für ihre Mitarbeiter zu übernehmen. Wer ein mal eine schwere Krankheit erlitten hat, wird „unversicherbar“. Das soll künftig ebenso geändert werden, wie arme und schwerkranke subventioniert werden und eine gesetzliche Versicherung garantiert bekommen – so zumindest der Plan des Präsidenten. Kostenpunkt: Eine Billion Doller. Einige Senatoren und Kongressabgeordnete unter den Republikanern werden sich erwartungsgemäß dagegen stellen, doch müssen auch sie sich einer Neuregelung des Gesundheitssystems beugen. Ob jedoch die Kostenrechnung aufgeht, und nicht wie bei Clinton 1994 vom Haushaltsbüro des Kongresses zu Nichte gemacht wird, muss sich zeigen. Doch weil Obama keine gänzlich neue Reform, sondern nur Ausbesserung anstrebt, könnte ihm das Gesundheitsprojekt gelingen. Es wäre ein wichtiges Zeichen, mehr noch: Es wäre eine wichtige Tat, ganz allein auf heimischem Boden.
Ein zweites Projekt bringt Obama auf den amerikanischen Boden der Tatsachen: Die Rassismus-Debatte. „Legt die Xbox weg“, riet der Präsident vor wenigen Tagen den Schwarzen Amerikas. Afro-Amerikaner sollten ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen um gesellschaftlich aufzusteigen. "Machen wir uns nichts vor: Die Schmerzen der Diskriminierung sind in Amerika noch immer zu spüren", sagte der erste schwarze US-Präsident zum 100-jährigen Bestehen der Bürgerrechtsorganisation NAACP. Es war die erste große Rede zum Thema Rassendiskriminierung seit seiner Amtsübernahme im Januar. Und sie beweist, dass Obama auch seinen Regierboden nicht aus den Augen verliert – nicht aus den Augen verlieren darf. So will er die Bildungschancen für Schwarze verbessern um ihnen auf dem Arbeitsmarkt die Kluft zwischen Weiß und Schwarz zu verkleinern und findet wie immer wirkungsvolle Worte: „Der amerikanische Traum muss für alle gelten.“ Ein Satz, der wahrlich auch zur Gesundheitsreform passt. Dabei seien auch die Eltern aufgerufen. Sie sollen "die X-Box weglegen und ihre Kinder zu einer vernünftigen Zeit ins Bett bringen". Der Präsident verwies in der Rede natürlich auf seine eigene Biografie. "Ich komme nicht aus einem reichen Haus", sagte Obama, dessen Mutter alleinerziehend war. "Ich hatte einigen Ärger als Kind. Mein Leben hätte leicht in die falsche Richtung gehen können. Aber meine Mutter hat mir Liebe gegeben, sie hat für meine Bildung gesorgt. Dank ihr hatte ich die Chance, das Beste aus meinen Fähigkeiten zu machen." Obama wirkt glaubwürdig. Und mit dem Glauben lässt sich ja bekanntlich...

Mittwoch, 1. Juli 2009

Die verblasste Ikone oder: Das System "Michael Jackson"

Der Tod Michael Jacksons wird verständlicherweise lebhaft diskutiert. Doch beschäftigen sich die Menschen nach dem Ableben des Ausnahmetalentes weniger mit seinem Tod als mit seinem Leben. Auf den Straßen hört man Aussagen wie: „Er war doch selbst noch ein Kind“ oder: „Als Mensch war er mir suspekt, seine Musik hab ich gemocht.“ Die Medien sind weniger zurückhaltend und packen die Superlative aufs Tableau: „Der größte Entertainer aller Zeiten“, „eine Ikone der Pop-Musik“, er wird gar als Quasi-Erfinder des Musikvideos (und MTV) gehandelt. Vielleicht ist vieles, was derzeit verhandelt wird, richtig. Im Internet prägen neben Huldigungen auch wüste Beschimpfungen das Bild. Der Tod einer Ausnahmeerscheinung führt derzeit zu einem wahren Ausnahmezustand. Für einen kurzen Moment wird das eigene Leben, werden die eigenen Probleme des Alltags aufs Abstellgleis befördert, freut man sich über das Andere im immer gleichen – ohne es zu merken. Für die Medien ist es Geschäft, für die Menschen ist es eine Sensation, die trotz aller Tragik Anlass zur Zerstreuung liefert. Ähnlich einer Fußball-WM ist der Tod Michael Jacksons ein Event, so böse das klingt. Und er ist ein Ereignis, das jeder auf seine persönliche Weise teilen kann. Denn jeder kennt ihn, verbindet etwas anderes mit ihm. Der Tod Michael Jacksons ist ein kollektives Ereignis. Im Kollektiv soll die Komplexität aufgelöst werden. Denn ein Tod ist immer auch etwas, was sich dem Verständnis und auch dem Verstehenwollen entzieht. Auf den sich keiner vorbereiten kann. Schnell ruft ein solcher Tod die Verschwörungstheoretiker auf den Plan. Ein großer Komplott trägt einem „bedeutsamen Tod“ Rechnung, macht ihn verstehbar, akzeptierbar. Nun liegen die Dinge im Fall Michael Jackson anders als bei Kennedy und Co. Michael Jackson wird zur Ikone stilisiert, in Wahrheit ist er seit Ende, vielleicht schon Mitte der 90er Jahre ein gebrochener Mann, eine verblasste Ikone. Ein Mann, der als Kind auf Erfolg und Selbstvermarktung getrimmt wurde, der gegen seine eigenen Wurzeln, seine eigene Identität gekämpft hat, der sich in seiner Eigenschaft als Mensch zu Gunsten der Erschaffung eines Systems marginalisiert hat – weil er sich marginalisieren musste. Und je mehr sein Gesicht durch seine 50 Operationen verblasste, desto mehr verblasste auch das System Michael Jackson.
Er versuchte der Mühsahl dieser genialistischen wie tragischen "Systematik" zu entrinnen, und wo er den Ausweg aus einem zermürbenden Starsein suchte, antwortete er mit Verve und Progression. Was er fand, war nur eine neue Ausfahrt nach Babylon. Erkaufte Kinderliebe mündete in Missbrauchs-Verdachtsfälle. Es mag der Wunsch nach Menschlichkeit, Nächstenliebe, Zuneigung, nach Unschuld und Neutralität gewesen sein. Und ungeachtet der Tatsache, dass die Eltern leichtes Spiel hatten, gehören kleine Kinder nicht in große Betten, da kann das Spiel noch so herzlich gemeint sein. Und dass es zum Austausch von „Zärtlichkeiten“ (welcher Form auch immer) gekommen ist, darüber besteht fast kein Zweifel. Michael Jackson ist nicht nur der Held, als den ihn jetzt gerne alle hochhalten, auf ihm lastet auch ein Geheimnis. Es ist diese Dichotomie aus Heldentum und Mysterium, aus (Musik)-Genie und (OP)-Wahnsinn, die Michael Jackson auch posthum so undurchsichtig macht. Da fällt es schwer, sich auf eine Seite zu schlagen. Er war wohl so wenig tadellos wie es der Mensch per se auch ist. Mit dem Unterschied, dass Jackson bei seinem Tod kein Mensch mehr war. Geistähnlich ist er abgetreten. Die 50 geplanten Konzerte in London hätte er vielleicht nie bestreiten können - wollte er vielleicht auch nie. Was letztlich zu seinem Tod führte oder nicht, er war verblasst. Sein Tod dürfte nicht verwundern. Vielmehr war er zu erwarten.
Zu Lebzeiten hat der (im Übrigen selbsternannte) „King of Pop“ mehr Platten verkauft, als je ein Künstler vor ihm, und als je wieder ein Musiker verkaufen wird – so die Prophezeiungen. Wenige Tage nach seinem Tod belegen seine Platten die ersten 10-20 Plätze in den Verkaufslisten von Amazon und iTunes. Media Control verzeichnet derzeit die meisten Plattenverkäufe, die jemals in einem so kurzen Zeitraum verbucht wurden. Die CD-Regale in den Kaufhäusern sind wie leer gefegt. Auf Bestellungen müssen Kunden mit zwei Wochen Wartezeit rechnen. Gerade erleben wir den Reboot des „MJ“-Systems. Seine Meriten sind unanfechtbar. Zweifellos hat es die Medienkultur geprägt, hat es die Ästhetik von Pop-Musik und Videoclips entscheidend mitbestimmt, hat es gezeigt, wie Marketing-Strategien funktionieren und wie elementar Disziplin und Perfektionismus im Künstlergeschäft sind. Doch die Niedertracht der Welt konnte es nicht besiegen, ironischerweise ist sie Teil von Michael Jackson selbst geworden. Die Nachwelt wird von „MJ“ lernen, und sie lernt auch, wie unberechenbar, verwundbar, unhuman, fatal und tragisch ein System sein kann, wenn es erstmal ein Eigenleben entwickelt hat. Ein eben solches hätte man dem Menschen Michael Jackson nur wünschen können! Dann würde er noch leben!