Montag, 9. November 2009

Medien. Information. Dauerrausch(en)

Wenn sich Bundespräsident Horst Köhler die Ehre eines Grußwortes anlässlich der kleinen, unauffälligen Internetseite „lyrikline.org“ gibt, dann sollte man genauer hinhören, was er zu sagen hat: „Wenn manchmal gefragt wird, wofür der Bundespräsident zuständig ist, dann sagt man gerne: Für’s Große und Ganze. Das ist auch richtig – im Großen und Ganzen. Wenn man aber genauer hinschaut, woraus das Große und Ganze denn besteht, dann wird mir immer klarer, dass es aus sehr vielen kleinen Teilen besteht.“ Damit hat er zweifellos Recht. Auf der Internetseite lyrikline.org kann man sich Gedichte von den Autoren selbst vorlesen lassen. Damit wird das älteste Medium, das Gedicht, mit dem neusten, dem Internet zusammengebracht, um allen Zugang zur Poesie zu ermöglichen. Ein ambitioniertes und lobenswertes Projekt. Im Kern geht es um etwas anders. „Weil Gedichte die dichteste, anspruchsvollste und subjektivste Art sind, Sprache zu gestalten, die Welt ins Wort zu fassen, die Existenz zum Ausdruck zu bringen.“ So kommt Köhler schnell vom Kleinen aufs Große: „Gedichte sind kleine Widerstandsnester gegen die riesige Flut an Sprachmüll, der uns täglich aus allen Medien entgegenkommt. Wir reden vom Kommunikations- und Informationszeitalter, in dem wir leben – aber oft kommt es uns so vor, als sei die Kommunikation noch nie so belanglos und als sei die Information noch nie so leer gewesen. Die Sender müssen ja rund um die Uhr senden und die Online-Dienste ihre Schlagzeilen möglichst stündlich ändern – so kommt es, dass die Sprache in eine Art Überproduktionskrise geraten ist.“ Schaut man sich die Bestrebungen vorbildlicher und gleichermaßen ambitionierter Internetjournalisten und Bloggern an – wie sie etwa mit dem „Internet-Manifest“ Ausdruck finden sollen, so scheint es, als bewegten wir uns derzeit zwischen den Stühlen. Auf der einen Seite wird das Internet als Möglichkeits- und Gestaltungsraum für Diskurse aufgefasst, die über das eigene Medium hinaus reichen, und in dem qualitative Inhalte zu partizipativen Inhalten werden – nach dem Motto: „Ich schreibe, mach mit“. Auf der anderen Seite wird dieses Motto oft allzu ernst genommen und ergießt sich dann in allerhand Unernstes, das sich fernab eines Informationsmehrwertes befindet. Bundespräsident Köhler beklagt den Informations-Overkill zu Recht. Möglicherweise ist die Jugendsprache auch eine Folge dieser informellen Orientierungslosigkeit, in der man sich mit einer individualisierten, herausragenden, eine sozialen Gruppe begrenzenden Sprache Gehör verschaffen will – wenn auch nur unter Gleichgesinnten.
Ein jeder Klickt und klickt, liest und liest, hört und hört, sieht und sieht. Medien. Information. Dauerrausch. Wir verlieren uns in Bilderfluten und Sprachgebölke. Der Turmbau zu Babel könnte zum Sinnbild gegenwärtiger Medienkultur werden, in dem keiner mehr einander versteht im endlosen Gemurmel. Ist Babylon Verderb und Ausweg zugleich, wie Lorenz Engell konstatiert? Was tun? Unterbrechen, pausieren, durchatmen, sagt Köhler und sieht die Möglichkeit in einem kleinen Gedicht: „In dieser Situation stellt das Gedicht eine Unterbrechung dar. Das Gedicht unterbricht für einen Augenblick das ewige Weiterreden. Es ermöglicht ein Atemholen – vielleicht sogar einen Moment der Wahrheit und der Selbsterkenntnis. Insofern ist es eine wunderbare List, dass durch lyrikline ausgerechnet im vielleicht geschwätzigsten Medium das gelesene Gedicht diese Unterbrechung, dieses Atemholen ermöglichen kann. Man hat mir gesagt, dass die meisten Aufrufe wohl während der Mittagspause stattfinden – also dann, wenn die Menschen eine Unterbrechung brauchen – und sich dabei buchstäblich auf einen Gedankenausflug bringen lassen möchten.“ Mahnt Köhler nicht geschickt, genauer hinzuschauen? Den kleinen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken? Das ist keine Zerstreuung, die er propagiert, er mahnt eher zur Kontemplation, ja sogar zur Konzentration. Man darf nicht müde werden, die Vielfalt als Chance zu sehen. Wenn Hingabe in Auseinandersetzung mündet, haben auch neue Medien ein gutes Werk getan. Dann ist die Hingabe nicht Orientierungslosigkeit, sondern gut begründet.

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