Donnerstag, 29. Oktober 2009

Ein überfälliges Internet-Manifest

Es war längst überfällig! Jetzt haben Journalisten, Autoren und Wissenschaftler ein „Internet-Manifest“ formuliert. 15 Verfasser haben 17 Punkte zum Wandel des Journalismus im Internet-Zeitalter aufgestellt. Übersetzt in bislang 17 Sprachen spricht sich das Manifest für einen qualitativen, die digitalen Möglichkeiten nutzenden Online-Journalismus aus. Dafür fordern die Verfasser, die Blockadehaltung von Seiten printorientierter Berufsschreiber aufzugeben und einen Wahrnehmungswandel anzustreben. So könne das Internet den Journalismus nicht nur verändern, sondern ihn sogar verbessern, heißt es bei Punkt 6. Der Verlust der printbedingten Unveränderlichkeit im Onlinemdium sei ein Gewinn, so die Verfasser. Dem ist zweifellos beizupflichten. Was hätte wohl die Frankfurter Rundschau getan, hätte sie ihre Fotostrecke über weinende Prominente mit dem Titel „Prominente Heulsusen“ in der Zeitung gedruckt (vgl. Stefan Niggermeiers Blogeintrag)? Es hätte haufenweise Leserbriefe gehagelt – und eine Gegendarstellung in Form einer Entschuldigung wäre angesichts des geschmacklosen Titels (es sind überwiegend Tränen der Trauer) fast schon geboten gewesen. Dank Online-Medium konnte die Frankfurter Redaktion den Titel mit einem Klick ändern. Er lautet jetzt „Prominente Tränen“. Zweifellos ist das Internet auch ein Ort für den politischen Diskurs, erst recht auch für den gesellschaftlichen (wie man erweitern könnte). Die Autoren konstatieren auch, dass es kein „Zuviel“ an Informationen gibt. Im Hinblick auf den Information-Overkill des Internets müsste man sicher ergänzen, dass unsere Selektionsfähigkeit zunehmend gefordert ist und sie eben auch geschult werden muss. Es ist letztlich die Wahl jedes einzelnen Nutzers, mit welchen Seiten er seinen täglichen Informationsbedarf deckt, und welche Sites seine Linklisten zieren. Gerade RSS-Feeds und Trackback-Funktionen erleichtern den Umgang mit Informationen. Die Entwicklungen in diese Richtung werden weiter gehen. Und möglicherweise ist diese große Informationskette keine Bedrohung sondern eine Chance. Im Internet würde das Urheberrecht zur Bürgerpflicht, heißt es dort auch. Dabei dürfe seine möglich werdende Verletzung nicht als Rechtfertigung für alte Distributionsmodelle dienen. Des Weiteren seien die Inhalte im Netz nicht mehr flüchtig, wie immer wieder bemängelt, sondern bleiben vorhanden und formieren sich zu einem „Archiv der Zeitgeschichte“. Nicht umsonst lautet das Diktum: Das Netz vergisst nie. Oder wie es im Manifest steht: „Was im Netz ist, bleibt im Netz.“ Im finalen Punkt fordern die Verfasser, die Recherche-Fähigkeiten der Nutzer von Seiten der Berufsrechercheure zu respektieren und mit ihnen zu kommunizieren. Auch diese Forderung ist zweifellos berechtigt. Letztlich deuten alle Punkte auf eine bestimmte Tatsache hin, die jedoch nicht ausgeführt wird. Und das wäre Punkt 18, der möglicherweise das Manifest selbst ad absurdum führen würde: Die Unterscheidung zwischen Leser und Autor ist hinfällig geworden. So sind die passiven Nutzer von einst die neuen Schreiber: Autoren, Journalisten, Verfasser. Das Netz ist die Erfüllung zahlreicher mediengeschichtlicher- und philosophischer Utopien: Schon Walter Benjamin wusste: Indem das Schrifttum an Breite gewinnt, was es an Tiefe verliert, gewinnen die Leser einen Zugang zur Autorschaft. Auch Berthold Brechts Forderung, den Rundfunk in einen beidseitig offenen Kommunikationsapparat zu wandeln und ihn vom reinen Zustand des Lieferantentums zu befreien, ist im Netz längst Wirklichkeit geworden. Diese Entwicklung hin zu masssenweiser Autorschaft (Norbert Bolz; Christian Hensen) muss nicht das Aus für qualitativen Journalismus bedeuten. Vielmehr ist er gefordert, noch besser zu werden und sich den Herausforderungen einer ernst zu nehmenden Gegenöffentlichkeit zu stellen. Zunehmend entdecken Zeitungsredaktionen die partizipativen Möglichkeiten, mit Lesern in Kontakt zu treten. So schreiben die Redakteure Weblogs, Twittern oder sind in sozialen Netzwerken aktiv. Es bleibt abzuwarten, ob sich Synergieeffekte entwickeln und wie man diese am besten nutzt. Eine Ignoranz neuer Medien von Seiten der alten Medien würde langfristig gesehen zur Selbstzerstörung führen. Das Internet-Manifest stellt fest, rüttelt wach, fordert. Es wurde bislang heftig diskutiert. Der Diskurs findet noch ausschließlich im Internet statt. Er muss diese Grenzen endlich überwinden!

Das Internet-Manifest wird nachfolgend in voller Länge „abgedruckt“:

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1. Das Internet ist anders.

Es schafft andere Öffentlichkeiten, andere Austauschverhältnisse und andere Kulturtechniken. Die Medien müssen ihre Arbeitsweise der technologischen Realität anpassen, statt sie zu ignorieren oder zu bekämpfen. Sie haben die Pflicht, auf Basis der zur Verfügung stehenden Technik den bestmöglichen Journalismus zu entwickeln - das schließt neue journalistische Produkte und Methoden mit ein.

2. Das Internet ist ein Medienimperium in der Jackentasche.

Das Web ordnet das bestehende Mediensystem neu: Es überwindet dessen bisherige Begrenzungen und Oligopole. Veröffentlichung und Verbreitung medialer Inhalte sind nicht mehr mit hohen Investitionen verbunden. Das Selbstverständnis des Journalismus wird seiner Schlüssellochfunktion beraubt - zum Glück. Es bleibt nur die journalistische Qualität, die Journalismus von bloßer Veröffentlichung unterscheidet.

3. Das Internet ist die Gesellschaft ist das Internet.

Für die Mehrheit der Menschen in der westlichen Welt gehören Angebote wie Social Networks, Wikipedia oder Youtube zum Alltag. Sie sind so selbstverständlich wie Telefon oder Fernsehen. Wenn Medienhäuser weiter existieren wollen, müssen sie die Lebenswelt der Nutzer verstehen und sich ihrer Kommunikationsformen annehmen. Dazu gehören die sozialen Grundfunktionen der Kommunikation: Zuhören und Reagieren, auch bekannt als Dialog.

4. Die Freiheit des Internet ist unantastbar.

Die offene Architektur des Internet bildet das informationstechnische Grundgesetz einer digital kommunizierenden Gesellschaft und damit des Journalismus. Sie darf nicht zum Schutz der wirtschaftlichen oder politischen Einzelinteressen verändert werden, die sich oft hinter vermeintlichen Allgemeininteressen verbergen. Internet-Zugangssperren gleich welcher Form gefährden den freien Austausch von Informationen und beschädigen das grundlegende Recht auf selbstbestimmte Informiertheit.

5. Das Internet ist der Sieg der Information.

Bisher ordneten, erzwungen durch die unzulängliche Technologie, Institutionen wie Medienhäuser, Forschungsstellen oder öffentliche Einrichtungen die Informationen der Welt. Nun richtet sich jeder Bürger seine individuellen Nachrichtenfilter ein, während Suchmaschinen Informationsmengen in nie gekanntem Umfang erschließen. Der einzelne Mensch kann sich so gut informieren wie nie zuvor.

6. Das Internet verändert verbessert den Journalismus.

Durch das Internet kann der Journalismus seine gesellschaftsbildenden Aufgaben auf neue Weise wahrnehmen. Dazu gehört die Darstellung der Information als sich ständig verändernder fortlaufender Prozess; der Verlust der Unveränderlichkeit des Gedruckten ist ein Gewinn. Wer in dieser neuen Informationswelt bestehen will, braucht neuen Idealismus, neue journalistische Ideen und Freude am Ausschöpfen der neuen Möglichkeiten.

7. Das Netz verlangt Vernetzung.

Links sind Verbindungen. Wir kennen uns durch Links. Wer sie nicht nutzt, schließt sich aus dem gesellschaftlichen Diskurs aus. Das gilt auch für die Online-Auftritte klassischer Medienhäuser.

8. Links lohnen, Zitate zieren.

Suchmaschinen und Aggregatoren fördern den Qualitätsjournalismus: Sie erhöhen langfristig die Auffindbarkeit von herausragenden Inhalten und sind so integraler Teil der neuen, vernetzten Öffentlichkeit. Referenzen durch Verlinkungen und Zitate – auch und gerade ohne Absprache oder gar Entlohnung des Urhebers – ermöglichen überhaupt erst die Kultur des vernetzten Gesellschaftsdiskurses und sind unbedingt schützenswert.

9. Das Internet ist der neue Ort für den politischen Diskurs.

Demokratie lebt von Beteiligung und Informationsfreiheit. Die Überführung der politischen Diskussion von den traditionellen Medien ins Internet und die Erweiterung dieser Diskussion um die aktive Beteiligung der Öffentlichkeit ist eine neue Aufgabe des Journalismus.

10. Die neue Pressefreiheit heißt Meinungsfreiheit.

Artikel 5 des Grundgesetzes konstituiert kein Schutzrecht für Berufsstände oder technisch tradierte Geschäftsmodelle. Das Internet hebt die technologischen Grenzen zwischen Amateur und Profi auf. Deshalb muss das Privileg der Pressefreiheit für jeden gelten, der zur Erfüllung der journalistischen Aufgaben beitragen kann. Qualitativ zu unterscheiden ist nicht zwischen bezahltem und unbezahltem, sondern zwischen gutem und schlechtem Journalismus.

11. Mehr ist mehr – es gibt kein Zuviel an Information.

Es waren einst Institutionen wie die Kirche, die der Macht den Vorrang vor individueller Informiertheit gaben und bei der Erfindung des Buchdrucks vor einer Flut unüberprüfter Information warnten. Auf der anderen Seite standen Pamphletisten, Enzyklopädisten und Journalisten, die bewiesen, dass mehr Informationen zu mehr Freiheit führen - sowohl für den Einzelnen wie auch für die Gesellschaft. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

12. Tradition ist kein Geschäftsmodell.

Mit journalistischen Inhalten lässt sich im Internet Geld verdienen. Dafür gibt es bereits heute viele Beispiele. Das wettbewerbsintensive Internet erfordert aber die Anpassung der Geschäftsmodelle an die Strukturen des Netzes. Niemand sollte versuchen, sich dieser notwendigen Anpassung durch eine Politik des Bestandsschutzes zu entziehen. Journalismus braucht einen offenen Wettstreit um die besten Lösungen der Refinanzierung im Netz und den Mut, in ihre vielfältige Umsetzung zu investieren

13. Im Internet wird das Urheberrecht zur Bürgerpflicht.

Das Urheberrecht ist ein zentraler* Eckpfeiler der Informationsordnung im Internet. Das Recht der Urheber, über Art und Umfang der Verbreitung ihrer Inhalte zu entscheiden, gilt auch im Netz. Dabei darf das Urheberrecht aber nicht als Hebel missbraucht werden, überholte Distributionsmechanismen abzusichern und sich neuen Vertriebs- und Lizenzmodellen zu verschließen. Eigentum verpflichtet.
*) Stilblüten-Alarm aufgehoben

14. Das Internet kennt viele Währungen.

Werbefinanzierte journalistische Online-Angebote tauschen Inhalte gegen Aufmerksamkeit für Werbebotschaften. Die Zeit eines Lesers, Zuschauers oder Zuhörers hat einen Wert. Dieser Zusammenhang gehört seit jeher zu den grundlegenden Finanzierungsprinzipien für Journalismus. Andere journalistisch vertretbare Formen der Refinanzierung wollen entdeckt und erprobt werden.

15. Was im Netz ist, bleibt im Netz.

Das Internet hebt den Journalismus auf eine qualitativ neue Ebene. Online müssen Texte, Töne und Bilder nicht mehr flüchtig sein. Sie bleiben abrufbar und werden so zu einem Archiv der Zeitgeschichte. Journalismus muss die Entwicklungen der Information, ihrer Interpretation und den Irrtum mitberücksichtigen, also Fehler zugeben und transparent korrigieren.

16. Qualität bleibt die wichtigste Qualität.

Das Internet entlarvt gleichförmige Massenware. Ein Publikum gewinnt auf Dauer nur, wer herausragend, glaubwürdig und besonders ist. Die Ansprüche der Nutzer sind gestiegen. Der Journalismus muss sie erfüllen und seinen oft formulierten Grundsätzen treu bleiben.

17. Alle für alle.

Das Web stellt eine den Massenmedien des 20. Jahrhunderts überlegene Infrastruktur für den gesellschaftlichen Austausch dar: Die “Generation Wikipedia” weiß im Zweifel die Glaubwürdigkeit einer Quelle abzuschätzen, Nachrichten bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen und zu recherchieren, zu überprüfen und zu gewichten – für sich oder in der Gruppe. Journalisten mit Standesdünkel und ohne den Willen, diese Fähigkeiten zu respektieren, werden von diesen Nutzern nicht ernst genommen. Zu Recht. Das Internet macht es möglich, direkt mit den Menschen zu kommunizieren, die man einst Leser, Zuhörer oder Zuschauer nannte - und ihr Wissen zu nutzen. Nicht der besserwissende, sondern der kommunizierende und hinterfragende Journalist ist gefragt.

Internet, 07.09.2009

Wer dabei mithelfen möchte, diesen Text weiterzuentwickeln, kann das gerne hier tun.

[Update: ] Nachgereichter Beipackzettel von Stefan Niggemeier

Quelle: Internet-Manifest

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