Mittwoch, 1. Juli 2009

Die verblasste Ikone oder: Das System "Michael Jackson"

Der Tod Michael Jacksons wird verständlicherweise lebhaft diskutiert. Doch beschäftigen sich die Menschen nach dem Ableben des Ausnahmetalentes weniger mit seinem Tod als mit seinem Leben. Auf den Straßen hört man Aussagen wie: „Er war doch selbst noch ein Kind“ oder: „Als Mensch war er mir suspekt, seine Musik hab ich gemocht.“ Die Medien sind weniger zurückhaltend und packen die Superlative aufs Tableau: „Der größte Entertainer aller Zeiten“, „eine Ikone der Pop-Musik“, er wird gar als Quasi-Erfinder des Musikvideos (und MTV) gehandelt. Vielleicht ist vieles, was derzeit verhandelt wird, richtig. Im Internet prägen neben Huldigungen auch wüste Beschimpfungen das Bild. Der Tod einer Ausnahmeerscheinung führt derzeit zu einem wahren Ausnahmezustand. Für einen kurzen Moment wird das eigene Leben, werden die eigenen Probleme des Alltags aufs Abstellgleis befördert, freut man sich über das Andere im immer gleichen – ohne es zu merken. Für die Medien ist es Geschäft, für die Menschen ist es eine Sensation, die trotz aller Tragik Anlass zur Zerstreuung liefert. Ähnlich einer Fußball-WM ist der Tod Michael Jacksons ein Event, so böse das klingt. Und er ist ein Ereignis, das jeder auf seine persönliche Weise teilen kann. Denn jeder kennt ihn, verbindet etwas anderes mit ihm. Der Tod Michael Jacksons ist ein kollektives Ereignis. Im Kollektiv soll die Komplexität aufgelöst werden. Denn ein Tod ist immer auch etwas, was sich dem Verständnis und auch dem Verstehenwollen entzieht. Auf den sich keiner vorbereiten kann. Schnell ruft ein solcher Tod die Verschwörungstheoretiker auf den Plan. Ein großer Komplott trägt einem „bedeutsamen Tod“ Rechnung, macht ihn verstehbar, akzeptierbar. Nun liegen die Dinge im Fall Michael Jackson anders als bei Kennedy und Co. Michael Jackson wird zur Ikone stilisiert, in Wahrheit ist er seit Ende, vielleicht schon Mitte der 90er Jahre ein gebrochener Mann, eine verblasste Ikone. Ein Mann, der als Kind auf Erfolg und Selbstvermarktung getrimmt wurde, der gegen seine eigenen Wurzeln, seine eigene Identität gekämpft hat, der sich in seiner Eigenschaft als Mensch zu Gunsten der Erschaffung eines Systems marginalisiert hat – weil er sich marginalisieren musste. Und je mehr sein Gesicht durch seine 50 Operationen verblasste, desto mehr verblasste auch das System Michael Jackson.
Er versuchte der Mühsahl dieser genialistischen wie tragischen "Systematik" zu entrinnen, und wo er den Ausweg aus einem zermürbenden Starsein suchte, antwortete er mit Verve und Progression. Was er fand, war nur eine neue Ausfahrt nach Babylon. Erkaufte Kinderliebe mündete in Missbrauchs-Verdachtsfälle. Es mag der Wunsch nach Menschlichkeit, Nächstenliebe, Zuneigung, nach Unschuld und Neutralität gewesen sein. Und ungeachtet der Tatsache, dass die Eltern leichtes Spiel hatten, gehören kleine Kinder nicht in große Betten, da kann das Spiel noch so herzlich gemeint sein. Und dass es zum Austausch von „Zärtlichkeiten“ (welcher Form auch immer) gekommen ist, darüber besteht fast kein Zweifel. Michael Jackson ist nicht nur der Held, als den ihn jetzt gerne alle hochhalten, auf ihm lastet auch ein Geheimnis. Es ist diese Dichotomie aus Heldentum und Mysterium, aus (Musik)-Genie und (OP)-Wahnsinn, die Michael Jackson auch posthum so undurchsichtig macht. Da fällt es schwer, sich auf eine Seite zu schlagen. Er war wohl so wenig tadellos wie es der Mensch per se auch ist. Mit dem Unterschied, dass Jackson bei seinem Tod kein Mensch mehr war. Geistähnlich ist er abgetreten. Die 50 geplanten Konzerte in London hätte er vielleicht nie bestreiten können - wollte er vielleicht auch nie. Was letztlich zu seinem Tod führte oder nicht, er war verblasst. Sein Tod dürfte nicht verwundern. Vielmehr war er zu erwarten.
Zu Lebzeiten hat der (im Übrigen selbsternannte) „King of Pop“ mehr Platten verkauft, als je ein Künstler vor ihm, und als je wieder ein Musiker verkaufen wird – so die Prophezeiungen. Wenige Tage nach seinem Tod belegen seine Platten die ersten 10-20 Plätze in den Verkaufslisten von Amazon und iTunes. Media Control verzeichnet derzeit die meisten Plattenverkäufe, die jemals in einem so kurzen Zeitraum verbucht wurden. Die CD-Regale in den Kaufhäusern sind wie leer gefegt. Auf Bestellungen müssen Kunden mit zwei Wochen Wartezeit rechnen. Gerade erleben wir den Reboot des „MJ“-Systems. Seine Meriten sind unanfechtbar. Zweifellos hat es die Medienkultur geprägt, hat es die Ästhetik von Pop-Musik und Videoclips entscheidend mitbestimmt, hat es gezeigt, wie Marketing-Strategien funktionieren und wie elementar Disziplin und Perfektionismus im Künstlergeschäft sind. Doch die Niedertracht der Welt konnte es nicht besiegen, ironischerweise ist sie Teil von Michael Jackson selbst geworden. Die Nachwelt wird von „MJ“ lernen, und sie lernt auch, wie unberechenbar, verwundbar, unhuman, fatal und tragisch ein System sein kann, wenn es erstmal ein Eigenleben entwickelt hat. Ein eben solches hätte man dem Menschen Michael Jackson nur wünschen können! Dann würde er noch leben!