Sonntag, 31. August 2008

Die Antithese des Schreckens

Wer erinnert sich nicht an die Frage aller Fragen. Im Film wurde sie 1946 scheinbar zum ersten Mal gestellt. Falsch. Eigentlich wurde sie gar nicht gestellt. Der ganze Film hat sie sich zu Eigen gemacht, sie einverleibt. Die Frage selbst blieb ungestellt, unausgesprochen, und vor allem unbeantwortet: „Ist das Leben nicht schön?“ Die Schauspieler James Stewart und Donna Reed würden die Frage wohl nicht ohne weiteres bejahen. Nicht nachdem George Bailey vor dem finanziellen Ruin stand, seinen Lebensmut verlor und dem zu seiner Hilfe erschienenen „Engel Clarence“ rät, seine Identität am liebsten ganz auszulöschen. Gesagt getan. Keiner seiner Freunde kennt ihn mehr, selbst für seine Familie ist George ein Fremder. Sein Haus, seine Frau, seine Kinder existieren nicht ohne ihn. Kann das Leben nicht doch schön sein?
Roberto Benigni schrie die Antwort 1997 mit voller Überzeugung, voller Inbrunst und Lebensfreude aus sich raus: „Das Leben ist schön“! Hat es dafür wirklich 70 Filmjahre gebraucht? Wenn man ehrlich ist, stellt man nach diesem Film auch dieses Diktum wahrlich in Frage. Wie kann das Leben schön sein, wenn Menschenmassen deportiert, Familien auseinander gerissen und Kinder getötet werden. Schnell fühlt man sich an Louis Armstrongs „What a wonderful World“ (1967) erinnert. Als dieses Lied die grausamen Bilder von Toten und Explosionen im Film „Good Morning Vietnam“ (1987, mit Robin Williams) „untermalt“, mutet die Schönheit dieses Liedes so tragisch und schwer an. Ein Lied, das die Bilder ästhetisiert und so die Absurdität des Krieges jedem Zuschauer schonungslos vor Augen führt. What a wonderful World.



Doch hat nicht gerade die Abscheulichkeit und Tristesse ein wenig Schönheit verdient? Kann nicht ein kleines Lied ein großes Leid wie selbstverständlich lindern? Die Frohnatur Guido spielt seiner „geliebten Prinzessin“ Dora im Konzentrationslager jenes Stück von Jacques Offenbach (aus Hoffmanns Erzählungen) über die Lautsprecher, das sie beide gemeinsam in der Oper gehört haben. Im Lager sind die beiden räumlich weit voneinander getrennt. Auch im Opernhaus können die beiden nur Blickkontakt aufnehmen. Das Stück zieht ein Band zwischen ihnen, verbindet sie, schweißt sie zusammen. In der Oper wie im Lager. Die Bacarole. Welch eine Schönheit, was für eine „gewaltige“ Rhetorik.



In „Zeit des Erwachens“ mit Robin Williams und Robert de Niro spielt die Musik gar eine Doppelrolle. Die geistesabwesenden Patienten, welche unter einer unerforschten Schlafkrankheit leiden, hören vielleicht die Musik, die ihnen Dr. Sayer vorspielt. Genau aber weiß das niemand. Auf jeden Fall hört sie der Zuschauer, und sie verleiht dem Schicksal der Menschen eine friedliche Ruhe. Nachdem ein Heilmittel die Patienten kurzzeitig aus ihrem Schlaf erwachen lässt, bringt sie die Musik zum Tanzen. In der Welt der Wachen kommen die Patienten jedoch nicht zurecht, sie erleiden einen Rückfall. Für sie scheint die friedliche Ruhe Erlösung. Und die Musik spielt weiter. Auch für den Zuschauer.
Im Jahr 1985 erschien der Song „Wonderful Life“ der britischen Gruppe „Black“. Lange vor Benignis „Das Leben ist schön“ flossen unzählige Tränen, die nicht wussten, ob sie des Lachens oder des Weinens wegen ihre Sache tun. Genau zehn Jahre später exportierten die Schweden Ace of Base wahre Lebenslust in die Radios und sangen „It´s a beautiful Life“. Drei Jahre später setzten sie einen drauf. „Life is a Flower“ hieß es dann völlig unverblümt. Hier bestand kein Zweifel: Diese Botschaft war eindeutig.



Manchmal liegt die Wahrheit wohl irgendwo dazwischen. Es gibt unsagbar viel Unrecht und Leid auf der Welt. Doch so lange es Filme gibt wie „Das Leben ist schön“, Stücke wie Offenbachs Bacarole oder Songs wie Blacks „Wonderful Life“ gibt es nur die eine Wahrheit: Das Leben ist schön! Dann sind es die kleinen Dinge, denen man Aufmerksamkeit schenken sollte: „I see Trees of Green, red Roses too. I see them bloom for Me and You, and I think to myself: What a wonderful World.” Der Filmklassiker um George Bailey und Engel Clarence gibt im englischen Originaltitel die Antwort selbst: „It´s a wonderful Life“ heißt der nämlich auch.

Dienstag, 26. August 2008

Der Relaunch der Bibel

"Groß sind die Werke des Herrn; wer ihrer achtet, der hat eitel Lust daran." (AT, Kap. 111, Vers 002). Eine ähnliche Lust muss wohl auch der Schauspieler Ben Becker derzeit verspüren, bringt er doch das Buch der Bücher in einer dreistündigen "konzertanten Performance" auf die Showbühne. Es sei "Ben Beckers göttliches Come Back", schreibt der Spiegel. Vanity Fair überschlägt sich vor Begeisterung: "Jesus mag Gottes Sohn sein, aber Ben Becker ist seine Stimme." Und die Welt bleibt lieber bei den Fakten: "Das Bühnenspektakel riss die knapp 3000 Zuschauer im Tempodrom vor Begeisterung von den Sitzen.“ Bereits 1996 brachte Ben Becker die Bibel ins Fernsehen, spielte Prinz Sidqa im Film "Die Bibel - Samson und Delila", jetzt musikalisiert, ja instrumentalisiert er sie - im "wahrsten" Sinne des Wortes. Und was wahr und falsch ist, das wusste Jesus gewiss, doch weiß das auch Ben Becker? Was dürfte der Zimmermann von einst wohl zum Schauspiel Beckers, zum "Relaunch" der Offenbarungen Gottes sagen? Während Jesus durch Nazareth, Jerusalem und Judäa pilgerte, tourt Ben Becker durch Kiel, Hannover, Köln, Dortmund, Leipzig, Dresden, Hamburg, Stuttgart, München. Auch ihm dürften seine Jünger folgen. Ob die Verkündung des Glaubens auf fruchtbaren Boden fällt, ist fraglich. Die musikalische Überbringung der "Frohen Botschaft" dürfte dem Deutschen Filmorchester Babelsberg zweifellos gelingen. Der Name der begleitenden Band Beckers "Zero Tolerance" klingt dagegen eher mephistophelisch als göttlich. Und wenn die Show für die Besucher nur das "kleine Senfkorn Hoffnung" ist, so scheint sie für Ben Becker gleichwohl die Erfüllung. Ben Becker. Ein Virtuose der Bühne oder doch eher ein enfant terrible? Er spielte an der Seite namhafter Schauspieler, sang mit Xavier Naidoo bei Schiller und spricht nun mit tiefer Stimme das Wort Gottes. Fühlt er sich doch zu Höherem als Pop berufen? Es scheint vielmehr, als mache er aus dem Höheren selbst Pop. "Die Bibel - live", preist RTL an, "Best of Bibel" heißt seine Doppel-CD, "Die Bibel - eine gesprochene Symphonie" ist der pathetische und großspurige Titel seiner DVD, und die Internetseite gotteslästert (? bzw. nennt) sich "bibel2008.com". "Relaunch" wird die Auferstehung des Ben Beckers ins Moderne übersetzt. Im Alten Testament heißt es "Du wirst dich nähren deiner Hände Arbeit; wohl dir, du hast es gut." (Kap. 128, Vers 002). Wie wahr, was in der Bibel steht geschrieben.

Dienstag, 19. August 2008

Das Leben ist schön

Selten hat mich ein Film so sprachlos gemacht wie dieser. Was mit ungeheuerlicher Leichtigkeit begann, endete mit einer schmerzlichen Schwere. Während sich in der ersten Hälfte die Frohnatur Guido (Roberto Benigni), ein jüdischer Buchhändler, mit allerlei Schabernack und Lebensfreude daran macht, seine "geliebte Prinzessin" (Nicoletta Braschi) zu erobern, schlägt die Komödie im zweiten Teil in pure Tragik um. Just an dem Tag, an dem sein Sohn Giosué seinen fünten Geburtstag feiert, wird Guido mit ihm und seiner mittlerweile angeheirateten Frau Dora in ein Konzentrationalager deportiert. Dort verliert Guido seine Frohnatur keineswegs, gaukelt er doch seinem Sohn vor, die Deportation sei ein Spiel, bei dem man am Ende einen echten Panzer gewinnen könne. Dass Frauen und Männer getrennt würden - beide also ihre Mutter bzw. Frau nie wieder sehen werden - sei die Mannschaftsaufteilung. Auch fürs Essen gebe es Punktabzug. Nur wer am Ende 1000 Punkte auf seiner Liste hätte, würde als Sieger hervorgehen und den "echten Panzer" gewinnen. Im erbitterten Kampf um die Punkte führt das "Spiel" auf eindrucksvolle Weise den Nationalsozialismus ad absurdum.
"Wie Charlie Chaplin in "Der große Diktator" oder Radu Mihaileanu in "Zug des Lebens" macht Roberto Benigni die nationalsozialistische Herrschaft in einer surrealen Tragikomödie mit Slapstick-Elementen lächerlich. Dabei wird die Absurdität dieses Schreckensregimes um so deutlicher. Auch wenn man beim Zuschauen immer wieder lacht, handelt es sich bei "Das Leben ist schön" um einen erschütternden Film, und in keiner Minute vergisst man das Grauen hinter der Clownerie." (Dieter Wunderlich)
Roberto Benigni hat mit diesem Film ein gewagtes Meisterwerk aus dem Ärmel gezaubert, für das er zahlreiche Oscars einheimste. In Italien sorgte der Film 1997 für stürmische Begeisterung. Und bis heute wünscht man sich mehr Filme solcher Klasse.
Am Ende klettert Giosué aus seinem Schrank, in dem er sich verstecken sollte, bis er kein Mucks mehr hörte. Er steht in Mitten eines leeren Platzes. Da, wo zahlreiche Menschen ihr Leben verloren haben, da steht nur noch er. Auf ihn rollt ein Panzer zu, dessen Fahrer ihn zu sich hineinzieht. Auf der Fahrt sieht er seine Mutter. "Tausend Punkte, wir haben gewonnen!", schreit der Kleine in die offenen Arme seiner Mutter. Sein Vater Guido wurde erschossen, als er versuchte, als Frau verkleidet seine Dora zu finden. Zu Beginn des Films gab er einem intelligenten Hotelgast - ironischerweise auch der Arzt im Konzentrationslager - immer Rätsel auf. Dieser fragte Guido darauf hin: "Eh du meinen Namen nennst, bin ich schon nicht mehr da." Das "Schweigen" war die Antwort eines ebenso klugen Guidos. Und genau das bleibt am Ende dieses Films. Ist das Leben nicht schön?




An dieser Stelle sei auch an einen denkwürdigen Moment der Oscar-Geschichte erinnert: An die Preisverleihung für "Das Leben ist schön" an Roberto Benigni.

Montag, 18. August 2008

In eigener Sache: Von der Kontemplation zur Aktion

Ich selbst kann es kaum noch erwarten. Mein erstes Buch steht in den Startlöchern und wartet darauf, die Intelligenzia dieser Welt zu bereichern! Okay, formulieren wir es bescheidener: Bald wird es veröffentlicht, und es freut sich über jede noch so bescheidene Nachbarschaft anderer Druckerzeugnisse in den Bücherregalen dieser Wohnstuben. Neben Romanen und Sachbüchern wird es sich ebenso wohl fühlen wie neben Belletristik und Kochbüchern. Ohnenhin würde der Leser guten Geschmack beweisen. Das Rezept des Lebens sollte darin zwar nicht gesucht werden, jedoch führt das Buch so mancher Medientheorie die Medienpraxis schonungslos vor Augen, und es entstaubt so manchen Medienbegriff vergangener Tage. Das einfach deshalb, weil es die älteste Vokabel der Mediengeschichte - den Autor - mit der neusten - dem Web 2.0 - konfrontiert. Im Laufe der Arbeit bin ich auf einige überraschende Zitate gestoßen, welche dringend einer Überholung bedurften - oder was viel überraschender war: Viele Zitate von "früher" sind heute aktueller denn je. Scheinbar braucht es erst das "Web 2.0", damit sich so manche Utopien bewahrheiten können. Gleichzeitig findet derzeit eine Entmystifizierung der Medien statt, wie es sie nie zuvor gegeben hat. Wer es noch nicht mitbekommen hat: Wir befinden uns derzeit in einem enormen Wandel der Medienkultur, welcher gerade erst im Begriff ist, den Alltag völlig umzukrempeln. Heute lesen wir nicht mehr nur, hören wir kein Radio mehr, lassen uns nicht mehr vor dem Fernsehen zerstreuen. Kontemplation war gestern, heute ist Aktion angesagt! Heute wird selber geschrieben - und das gleich massenweise - , werden Radiosendungen selber live ausgestrahlt, produzieren Amateure ihre eigenen Sendungen und sind Schirmherren ihrer eigenen TV-Kanäle. Wo dieser Wandel hinführt, bleibt abzuwarten. Wichtig ist, ihn zu erkennen und ernst zu nehmen. Im 21. Jahrhundert wandelt sich Medienkultur, werden Sinnbezüge neu justiert, wird Wirklichkeit individuell. Bald wird es das Buch geben. Der Titel "Medienkultur im Wandel. Autorschaft im Web 2.0" wird das Cover zieren. Es wird die Wirklichkeit der Welt nicht verändern, doch es verändert meine. Und vielleicht entdeckt auch so mancher Leser etwas neues, etwas wofür es sich lohnt, zu lesen. Etwas womit er nicht gerechnet hat. Sich sammeln statt zerstreuen. Aktion statt Kontemplation. Ich selbst kann es kaum noch erwarten.

Sonntag, 10. August 2008

Das Torrent-Syndrom

Als Torrent-Syndrom bezeichnet man die Krankheit zwanghafter und unkrontollierter Klicks, welche willkürlich sogenannte Torrents auf den Computer laden, was wiederum die rechtswidrige Beschaffung jeglicher Medienformate zur Folge hat. Ebenso wie durch die Tics beim Tourette-Syndrom fühlen sich auch Außenstehende, hier: Medienkonzerne und Behörden, durch die Klicks provoziert. Die Behandlungsmethoden sehen eine Medikation in Form von Psychopharmaka und Neuroleptika vor, wobei auch Verhaltenstherapien Wirkung zeigen. Besonders der Einsatz von Musik, etwa das Spielen von besonders schnellen und rhythmischen Instrumenten soll den Tics entgegen wirken. Nicht so bei den Klicks: Hier sind Musik und Film die eigentlichen Ursachen für das Torrent-Syndrom. Wie ironisch.

Samstag, 9. August 2008

Fernsehen zum Nachsehen und die Fürbitte des Digitalen

Was ich gerade tue? Ich sehe Fern während ich schreibe. Außerdem schreibe ich während ich Fern sehe. Das Programm läuft nicht ohne mich weiter. Ebenso wie die Buchstaben nicht von alleine getippt werden, wechseln auch die Bilder nicht alleine einander ab. Sie stehen still. Keiner rührt sie an, so lange ich sie nicht bewege, sie weiter laufen lasse. Während die Buchstaben auf mich warten, in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht zu werden, sind die Bilder bescheidener. Sie warten nur auf mein "go", auf mein "play". Sie laufen dann weiter von alleine. Denn sie können schon laufen. Das haben sie bereits 1832 gelernt, als der Deutsche Simon Stampfer und der Belgier Joseph Plateau das "Lebensrad" erfanden. Seitdem läuft das Bild unaufhörlich weiter, fast so wie das Riesenrad, das im Wiener Prater seit 1897 unaufhörlich seine Runden dreht. Nur heute - 2008 - da werden sie endlich gestoppt, die Bilder. Das Zapping geht in die zweite Runde. Zu ihm gesellt sich das "Stopping". Das Drag & Drop des Web 2.0 ist das Zapp & Stopp des Digitalen Fernsehens. Der Videorekorder revolutionierte 1954 das Sehen, indem er Aufzeichnungen und das "Nachsehen" erlaubte. Heute heißt er Festplatte. Die "Media Receiver" dieser Welt erlauben das aktive Eingreifen in die Wirklichkeit der bewegten Bilder. Fortan wird sie manipulierbar. Die hier lesbaren Buchstaben nähern sich einem Stoppzeichen, dem Punkt. Die Bilder warten auf ihr Weiterleben, ich drücke einfach die Play-Taste des Live-Fernsehens. Was die anderen Menschen lange gesehen haben, lässt in meiner Realität lange genug auf sich warten. Ich werde "nachsehen", ob noch alle Bilder an ihrem Platz sind; da wo ich sie eben verlassen habe. Wenig später werde ich meinen Fernseher sogar bitten. Wenn er meine Bitte - die fast einer Fürbitte gleicht - erhört, wird er mir ein Video schenken. Er wird es sich beim scheinbar viel größeren Bruder Web 2.0 ausleihen, wird es mir gegen eine kleine Gebühr von lächerlichen Euros schenken und es dann seinem Bruder spätestens nach 24 Stunden "unversehens" zurückgeben. Video on demand heißt die Fürbitte des Digitalen. Pay per view erklärt das Carpe Diem zum höchsten Prinzip. Und wem die Wirklichkeit der Bilder nicht gefällt, der hält die Wirklichkeit am besten einfach an. Living on Video ist endlich Wirklichkeit!

200 illegale Downloads legal oder: Vorsprung durch Technik

Sicherlich, auch das Hören eines ausländischen Senders zu Nazi-Zeiten vor den Lautsprechern des „Volksempfängers“ (VE301) war rechtswidrig und wurde bestraft. Für das Abhören eines „Feindsenders“ wurde sogar die Todesstrafe angedroht. Zu einem entsprechenden Urteil kam es tatsächlich. In ähnlichem Duktus musste „entartete Musik“ wie „Nigger-Jazz“ den stupiden Klängen der Marschmusik weichen. Die „Gleichschaltung“ erlaubte keine Vielfalt. Weitaus gefahrloser, wenn auch nicht unumstritten bahnte sich der Fernseher den Weg in die Welt-Wohnzimmer. Sicher wurden auch hier öffentliche Falschaussagen und sonstige Fehltritte geahndet, doch das betraf die Akteure, nicht die Konsumenten. Medienkritiker aller couleur gingen zwar auch ihnen an den Kragen, sprachen von „negativem Familientisch“ oder „Nullmedium“, doch beim Fernsehen kann man sich allenfalls „zu Tode amüsieren“. In Zeiten des Web 2.0 ist das anders. Um beim Tod zu bleiben, Internetsucht hat in Korea tatsächlich zu Todesfällen wegen erschöpfungsbedingtem Organversagen geführt, doch die Bestrafung der Nutzung eines neuen Mediums ist das weitaus häufigere Problem. Niemals in der Mediengeschichte wurde der bloße Medienkonsum mehrfach geahndet als zu Zeiten des Internets. Die Macher der Technik scheinen die Rechnung ohne die Macher der Sittesregeln gemacht zu haben. Wer sich im „Kramladen des Glücks“ (Harald Hillgärtner) einen Song herunterlädt, weil er ihn weder in einem Online-Shop noch in einem anfassbaren Weltgeschäft erstehen kann, der kann sich glücklich schätzen, nicht dem "digital divide" ausgesetzt zu sein und an der Informationsgesellschaft partizipieren zu dürfen. Die technischen Möglichkeiten erlauben das Stöbern in unendlich dimensionierten Archiven aller Mediengattungen. Wer die Nutzung dieser technischen Möglichkeiten unter Strafe stellt, der geißelt damit eine Entwicklung, die demnach niemals hätte Wirklichkeit werden dürfen. Doch wie ist es dazu gekommen? Eigendynamik? Müßig darüber zu reden? Richtig, besser die Folgen eindämmen, Selbstkosmetik betreiben. Gesetze verabschieden, „Körbe“ kassieren, die Exekutive bemühen. Die Generalstaatsanwälte der Länder haben nun die Nase voll. Als hätten sie den Sinn der Medienkultur, nämlich technische Weiterentwicklung, Informationskanalisierung, Wissensentfaltung verstanden, haben sie wahrscheinlich nur die Arbeitsentlastung im Sinn. Nichtsdestotrotz beweisen sie gesunden Menschenverstand, ein doch noch ernst zu nehmendes Rechts- und Unrechtsbewusstsein. So schlagen die Generalstaatsanwälte in NRW vor, die Strafverfolgung erst ab 200 illegalen Downloads zu beginnen. Ein weiser Entschluss, lediglich den Banden das Handwerk zu legen. Hausdurchsuchungen bei Teenagern, welche ein neues Medium nichts weiter als nutzen, dürften wohl in keinem Verhältnis zur vorgeworfenen Straftat stehen. Der Volksempfänger sollten dem kleinen Geldbäutel der Menschen Rechnung tragen. Der kleine Geldbäutel von Teenagern scheint also doch ein technisches und rechtliches Pendant zur Seite gestellt zu bekommen. Selbstverständlich sollte das Urheberrecht gewahrt bleiben und das Werk der Künstler respektiert werden. Ab wann man die Grenze des Respekts überschreitet, ist sicherlich schwer zu beurteilen. Sachsen-Anhalt zieht gar die Grenze erst bei 3000 Songs oder 200 Filmen. Ein Gesetz-Entwurf bezüglich der Download-Toleranzen wird denn auch wohl nicht zu erwarten sein. Vielleicht sind ja „Radiotracker“ die modernen Volksempfänger, mit denen man ganz legal sogar aufzeichnen darf, selbst „entartete Musik“. Manchmal sollte man sich über die Folgen eines „Vorsprungs durch Technik“ Gedanken machen, bevor es zu spät ist.