Mittwoch, 30. September 2009

Bundestagswahl 2009: Farben, Fallen und die FDP

Die beiden großen Volksparteien haben ihr schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielt. Die CDU hat sich quasi – wie die RP richtig bemerkt – zum Wahlsieg verloren. Diese Paradoxie wird sich wahrscheinlich auch in der Regierungsarbeit widerspiegeln. Schon kurz nach der Wahl mehrten sich die Stimmen, Parteivorsitz und Kanzleramt sollten besser getrennt werden. Vor allem blickt alle Welt auf die Vergabe der Ministerposten. Wird Guido Westerwelle tatsächlich deutscher Außenminister? Wird er Verhandlungen in den USA, Russland oder China führen können? Angesichts seiner akuten Fremdsprachenschwäche, und seiner schlichten Unkenntnis selbst von der englischen Sprache, lassen Zweifel aufkommen. Und auch das westerwellesche Wesen eines zwar guten Rhetorikers aber nicht wirklich ernsthaften Staatsmannes macht die Sache nicht einfacher. Innenpolitisch steht indes fest: Die Zeiten für Merkel werden noch ungemütlicher als in der großen Koalition. Zickereien sind vorprogrammiert, und sie werden keineswegs von Merkel kommen! Wie dir RP weiter schreibt, ist die FDP zwar noch keine Volkspartei, wohl aber eine „Vollpartei“, gigantische 14 Prozent sprechen für sich. Die Bundestagswahl 2009 ist ein Richtungswechsel, der, wenn man ihn weiter denkt, das Aus der großen Volksparteien sein könnte. Die kleinen Fraktionen, vor allem die Linke haben enorm zugelegt, selbst die Piratenpartei hat es aus dem Stand auf 2 Prozent gebracht. Vielleicht ist ein Gegengewicht zu den großen Volksparteien gut, und vielleicht kann der Streitwille einer starken Opposition der politischen Sache, also inhaltlichen Auseinandersetzung dienlich sein. Es steht jedoch weiterhin zu befürchten, dass personelle Querelen und persönliche Eitelkeiten sowohl den Bürgerwillen untergraben als auch die politische Führung Deutschlands überschatten werden. Politik in der Sackgasse? Ist auch der bewussten - und massenhaft getroffenen - Entscheidung des Nichtwählers Respekt zu zollen? Nichtwähler tun dem Land besser als Linkswähler! Insofern hätte man vielleicht dazu aufrufen sollen, am Sonntag nicht zur Wahl zu gehen!
Jetzt erleben wir fast demütig den Niedergang der SPD. Tigerenten und Biene-Mayas, welche den Abgeordneten unbeschwerte Kindheiten bescherten, werden ihnen im Alter zu Ikonen des Scheiterns, ja, zu Symbolen des Schreckens, zum Damoklesschwert der Politik. Und das gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten, in denen Arbeitsplatzverlust und soziale Ungerechtigkeit das Tagesgeschehen bestimmen. Die Wahl hat gezeigt: Die Menschen im Land dürsten nach zuverlässigen Werten, nach einer starken Hand, die gleichzeitig zupacken kann und einfach nur schützend über den Köpfen schwebt. Das ist sie die bürgerliche Hand, die sich versucht auf die Mitte zu zu bewegen. Das wird ihr gelingen, wenn sie sich jetzt nicht an Sondierungsgesprächen – auch auf NRW-Ebene – festbeißt und dem kindischen Farben- und Bilderspiel (schwarz-gelb, rot-rot, grün,/Jamaika, Ampel, Tigerente…) gut durchdachte und nachhaltige Inhalte entgegen setzt. Die Zeiten sind ernst. Nicht gegeneinander, sondern Miteinander muss die Devise lauten. Krisen bewältigt man nur mit vereinten Kräften. Es gibt viel zu tun für Merkel und Westerwelle! Der Wähler hat entschieden. Packen Sie es an!

Freitag, 18. September 2009

Harald Schmidt: Der Großmeister ist zurück!

Folgt nach Kachelmann in Zukunft der neue Letterman? Der ARD-Wetterexperte überließ die Zuschauer in Schmidts Hände mit den Worten: "Ich kenne niemanden, der überhaupt noch mit Bart moderiert. Und wir hoffen alle, dass er sich rasiert hat", sagte einer, der selbst ob seines gesichtlichen Haarwuchses in kritisches Visier genommen worden ist. Fast demütig, devot, platzräumend brachte er den Satz: "Freuen Sie sich auf Harald Schmidt" über die Lippen. Der Großmeister der Anspruchs-Unterhaltung ist wieder da! Und was war das für ein Auftakt für eine Sendung, von der man nicht mehr viel zu erwarten hatte, oder nicht mehr viel erwarten konnte. Zugegeben, nach dem Abtritt von Oliver Pocher konnte es nur aufwärts gehen mit "Deutschlands Polit-Magazin Nummer Eins". Aber die Messlatte vor dem Start gestern Abend setzte der "Edel-Entertrainer" (Süddeutsche) selbst erwartungsgemäß hoch. Nicht mehr mit zweifelhaften Showgrößen und Medienstars wolle sich Schmidt künftig unterhalten. Stattdessen ziehe er es vor, Unternehmer zu Wort kommen zu lassen.

Überraschenderweise hielt er, was er versprach. Und als der Trigema-Chef Wolfgang Grupp das Studio 449 in Köln betrat, fand eine eh schon gelungene Sendung ihren Höhepunkt. Harald Schmidt soll jetzt endgültig das Label für richtige Late Night im Stile eines Jay Leno oder David Lettermans sein - deren legendäre Show "Late Night" im März erst von Neuling Jimmy Fellon übernommen worden ist - das zeigte schon der Vorspann der Sendung. Großstadtflair zu nächtlicher Stunde wollte dieser suggerieren und setzte sich konsequent in der Studiokulisse mit leuchtenden Lichtern der Skyline fort. Schmidt lief gleich zu Beginn zur Hochform auf: "Ich finde, einmal hat es richtig gefunkt in diesem Wahlkampf: Das war die Landung von Müntefering." Oder: "Wenn er das Wahlduell noch gesehen hätte, hätte Michael Jackson kein Propofol gebraucht." Harald Schmidt brachte es auf den Punkt. Dann zeigte er ein Bild, auf dem die Eingangstür der Agentur für Arbeit mit dem Wahlslogan "Wachstum schafft Arbeit" überschrieben wurde, um rumänische Arbeiter nach Deutschland zu locken. Ein Schelm, der Böses dabei dachte. Nicht nur eine Kombination aus den Rüttgers-Entgleisungen vergangener Tage und dem CDU-Wahlslogan, sondern zugleich ein subtiler Kommentar, der beinahe das vielfach kritisierte "Nazometer" wieder in Erinnerung rief. Umweltminister Gabriel nannte er den "Asketen von Niedersachsen", Dieter Althaus den "Geist vom Landtag in Thüringen". Der Zusammenschnitt der Wahlwerbefilme von CDU und SPD war ein gekonnter Wink in Richtung Große Koalition. Weitere Einspieler wie etwa zum "Schweinegrippenjournalismus" sprachen vielen Zuschauern aus dem Herzen. Die Schmidtsche Erklärung zum Afghanistan-Einsatz blieb jedoch substanzlos und unverständlich: "Für die einen Krieg, für die anderen eine Art Hausaufgabenbetreuung mit Maschinenpistolen", hieß es da. Und weiter: "Der Befehl zur deutschen Einheit kam unmittelbar aus einer Höhle in Afghanistan." Der Late-Night-Talker zeigt dazu einen Einspieler, in dem Al-Kaida-Anführer Osama bin Laden eine Botschaft verliest. Der Ton dazu war dem amerikanischen Präsident Ronald Reagan entliehen, der 1987 am Brandenburger Tor jene Worte an den Präsidenten der Sowjetunion richtete: "Mister Gorbatschow, open this gate, tear down this wall." Als dann soziale Netzwerke in Beschlag genommen wurden - "die Zuschauer holen sich den Journalismus von den Plattformen" - und der Philosoph Boris Groys mit den Worten zitiert wurde "Was wir haben, ist eine Kultur, in deren Mitte sich so etwas befindet wie ein Grab für einen unbekannten Zuschauer", widmete er per Video den "Usern von Twitter und Facebook" ein anonymes Grab, auf dem ein Laptop niedergelegt wurde. Anschließend gedachte er der unzähligen "klicklosen Homepages und Blogs" im Internet. In der anschließenden Hyperschnell-Konversation über die Regisseurin Andrea Breth, in der zufällig Namen wie Michel Foucault oder Jean Baudrillard fielen, wirkte der Zusammenhang leider verkrampft und undurchsichtig. "Star-Reporterin" Katia Bauerfeind, die es nach Polylux zuletzt mit einer Internet-Sendung nach 3Sat schaffte, überzeugte fürs erste, sowohl in Einspielern als auch live im Studio. Dort pries sie gemeinsam mit Schmidt Terrantinos "Inglorious Bastards" als Liebesschnulze an, wonach der Kinoschocker Lars van Triers Antichrist mit Bullis Wicki-Film gekreuzt wurde. Kombinatorische Höchsleistung mit künstlerischen Ansprüchen durfte man dieser Auftaktsendung wohl irgenwie bescheinigen. Schließlich gab der Unternehmer Wolfgang Grupp ein überraschend symphatisches und moralisch einwandfreies, schlagfertiges und äußerst gewitztes Gegengesicht zur Finanzkrise ab. Natürlich trat Schmidt, erneut mit Bart, gewohnt jovial auf, doch verlieh er seiner Erscheinung diesmal die nötige Substanz, die einen Abend - auch zu später Stunde - noch kurzweilig, beinahe nachhaltig werden ließ. Nur bei Momenten wie dem Interview mit dem imaginären Bruder Peter Scholl-Latours in Fidel Castro-Montur musste man sich der eigenen peinlichen Berührtheit hingeben. Ansonsten konnte man sich vertrauensvoll in die Hände des Conferenciers begeben, ja fast Fallenlassen war möglich. Wenn das so weiter geht, dann hat er endlich seine Form gefunden, die er so lange gesucht hat!

Dienstag, 15. September 2009

TV-Duell: "Wahlkampf für Kenner"

Frank-Walter Steinmeier hatte ganz recht, als er sagte: „Schauen Sie genau hin.“ Auch wenn 42 Prozent der (nur) 15 Millionen Zuschauer im Fernseh-Duell zwischen Kanzlerin und Vizekanzler keinen inhaltlichen Unterschied zu sehen vermocht haben, so war er gewiss da. Focus-Chefredakteur Helmut Markwort sagte ebenfalls ganz richtig: "Das ist ein Wahlkampf für Kenner." Und natürlich redet die vier Jahre der großen Koalition keiner weg. Liebe fragenden Journalisten: Große Koalition bedeutet gemeinsames Regieren. Das kann auch kein Beteiligter, bstreiten, sofern er nicht sein eigenes Arbeitswerk untergraben und die großen Entscheidungen vom Elterngeld und Ganztagsschulen über Kurzarbeit und Gesundheitsfond bis hin zur Abwrackprämie und der Opel-Rettung dem politischen Gegner allein zuschreiben will. Und in der Tat hat die große Koalition auch gute Politik gemacht – nicht nur im Ausland. National ist sicher der – erst späte, dann aber entschiedene - Umgang mit der Wirtschaftskrise zu nennen. Auch wenn der tiefe Fall der Autobranche noch bevorsteht. Außenpolitisch konnte Merkel die Herren Obama und Sarkozy nicht nur umschmeicheln, sondern sie auch dazu bringen, in Sachen Bankentransparenz, Afrika-Unterstützung und Umweltpolitik an einem Strang zu ziehen. Die Atomprovokationen von Nordkoreas Machthaber Kim Jong-il verurteilte sie ebenso entschieden wie den israelischen Siedlungsbau Nitnajahus. Den von der Bundeswehr befohlenen Angriff auf die beiden von den Taliban umlagerten Tanklaster versuchte sie weder abzuwiegeln noch allzu schön zu reden, sondern fand geeignetere, klügere Worte als ihr eigener Verteidigungsminister Frank-Josef Jung. Dass der auch nach der Bundestagswahl im Amt bleibt, gilt als höchst unwahrscheinlich.
Die richtigen Worte finden. Das gelang der Amtsinhaberin im TV-Duell weniger gut als dem Herausforderer Steinmeier. Der lief besonders in der ersten Hälfte zur rhetorischen Höchstform auf, sprach die Wähler immer wieder an, formulierte kurze und prägnante Sätze und zauberte auch außerpolitische Schönworte aus dem Hut, von denen die Kanzlerin nicht einmal gehört haben mag. Rhetorisch war das mithin eine Lehrstunde und man fühlte sich an alte Schröder-Zeiten erinnert – obschon sich die Zeiten gewandelt haben. Steinmeier war angriffslustig, blieb aber fair. Vielleicht erwarten deutsche TV-Journalisten eher eine Schlammschlacht als einen sachlich und nüchtern geführten Wahlkampf. Gleichwohl zeigte Steinmeier zum ersten Mal so was wie Leidenschaft. Aber immer wieder dreschten die Fragenden in die "Diskussion" und unterbrachen selbst die Kanzlerin mitten in ihren Ausführungen. Eine Benotung der „sozialen Gerechtigkeitslage“ in Deutschland war ebenso absurd wie von einer Tigerentenkoalition zwischen CDU und FDP zu sprechen. Dass eine solche infantile Bezeichnung dem Ernst der Lage nicht gerecht wird, insistierte Merkel zu Recht. Allerdings war es seltsam zu hören, dass sie sich tatsächlich bereits auf ein FDP-Bündnis festgelegt zu haben scheint. Westerwelle als neuer Außenminister? Das wäre wohl der Super-Gau. Da hört man lieber wieder den Worten Steinmeiers zu und vernimmt verblüfft, wie kompetent der als zu seicht und unerfahren deklarierte SPD-Frontmann doch sein kann. Zugegeben, sich auf die Vermehrung von Arbeitsplätzen und den Atomausstieg zu versteifen, reicht inhaltlich nicht an die Ausführungen von Merkel heran, die nichtsdestoweniger ihren Amtsbonus auszuspielen wusste. Wer von beiden aber jetzt die „soziale Gerechtigkeit/Marktwirtschaft“ gepachtet hatte, das wusste der geneigte Fernsehzuschauer nicht so recht. Beide haben für sich beansprucht, Wachstum generieren und Arbeitsplätze schaffen zu wollen. Aber auch hier gab es entscheidende Unterschiede, die auch die Journalistenriege nicht überhört haben kann: Merkel will richtigerweise eine Steuersenkung, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln und den potentiellen Käufer zu ermutigen. Steinmeier lehnt das mit Blick auf das Haushaltsdefizit und dem Finanzminister im Rücken ab. Am Schluss riss die Kanzlerin das Ruder wieder an sich. Ob die Verantwortlichen der Wirtschaftskrise ungeschoren davon kommen, wählte man die CDU, wie Steinmeier in seinem Schlusswort prophezeite, sei dahin gestellt. Immerhin sprach die Kanzlerin kurz von Familie und Bildung. Zwei zentrale Themen, denen die Moderatoren des Duells nicht den Hauch einer Aufmerksamkeit widmeten. Das ständige, äußerst unhöfliche Unterbrechen und der Wunsch, ein Feuer zu entfachen, wo nicht mal eine Glut sich anbahnte, schien den Fragenden wichtiger als sachliche und zu Ende gedachte Ausführungen der Befragten. Überhaupt war das ein Fernsehduell zwischen Journalisten und Politikern, bei dem nicht Deutschland verloren hat, wie anschließend attestiert wurde, sondern die Journalisten: Statt einer sachlichen Diskussion Raum zu geben, wollten alle ihrem eigenen Image gerecht werden: Plasberg fragte hartnäckig und stellte raffinierte Fallen, Maybritt Illner ließ nicht ausreden und wollte Polit-Talk generieren, Peter Kloeppel versuchte mit brisanten Fragen die Duellanten zu bewegen, wobei die Dienstwagenaffäre ebenso ausdiskutiert ist wie das Ackermann-Geburtstagsessen, und Peter Limbourg hielt sich zurück und meinte analysierend während der Sendung, eher ein „Duett statt ein Duell“ und ein „Ehepaar“ statt politische Gegner ausgemacht zu haben. Hier hat das Medium über den Inhalt entscheiden, war das Medium die Botschaft selbst, wie einst McLuhan medienwissenschaftlich konstatierte. Das Fernsehen würde Sachlichkeit und Konsens nur allzu gerne gegen Angriff und Dramaturgie eintauschen. Den entscheidenden Unterschied vergessen die Macher in diesen Tagen wieder besonders – wohl ob ihres blinden Flecks: Den zwischen medialer Regeln und politischer Relevanz. Und auch die Entlarvung von der Akte-Sendung, über Domian bis hin zu Quizsendungen durch die Politposse Horst Schlemmers bemerken nicht mal ihre Erschaffer. Das ist ein Wahlkampf für Kenner!

Freitag, 11. September 2009

Killerspiele: Wie Gewalt im Kopf entsteht

Da wurde so lange von „Wiederaufbauhilfe“ statt von „Krieg“ gesprochen und jetzt das. Über 50 Zivilisten könnte die Deutsche Bundeswehr in Afghanistan auf dem Gewissen haben, weil sie einen Befehl zum Luftangriff auf zwei von den Taliban belagerten Tanklastern gegeben hat. Die darauf gefolgte Abwiegelungstaktik von Bundesverteidigungsminister Franz-Josef Jung gleicht einer Farce. Wiederholt äußerte er, dass sich keine Zivilisten unter den Opfern befunden hätten. Man fragt sich, wie es dem Oberbefehlshaber (und dann auch Jung) möglich gewesen ist, Zivilisten von Taliban-Kämpfern zu unterscheiden, wo letztere eben nicht in Kriegsmontur sondern bewusst zivil zu Felde ziehen. Noch dazu geschah der Angriff in nächtlicher Dunkelheit, nicht etwa am Tag. Seine Tage im Amt sind jedenfalls gezählt. Und es besteht kein Zweifel: Es ist Krieg in Afghanistan. Und die Deutsche Bundeswehr ist mitten drin als zweit wichtigster Akteur im Kampf gegen den Terror. Denn „Wiederaufbauhilfe“ ist zugleich „Gewaltabbauhilfe“. Dass die Taliban westliche Demokratiesemantik nicht versteht, dürfte klar sein. Mit der Sprache der Waffen begegnet man den Taliban-Milizen dagegen auf Augenhöhe. Und das ist das Mindeste, was man tun muss. Zivilisten zu schützen muss aber Vorrang haben – noch dazu in diesem als “sauber“ deklarierten Krieg, in dem modernste Luftabwehr-, Aufklärungs- und Raketensysteme im Einsatz sind, die an Treffsicherheit Vietnam- und Golfkrieg in den Schatten stellen sollen.

Krieg findet aber nicht nur draußen, sondern auch in heimischen Wohn-, besser Kinderzimmern statt. Killerspiele schimpfen sich virtuelle Plattformen - mit zunehmendem Live-Charakter dank Internet-Direktübertragung und weltweiter Vernetzung der Spieler - auf denen Krieg simuliert wird. Er wird sogar sprichwörtlich in die Hand genommen: Am eigenen Joystick. Nicht erst nach den jüngsten Amokläufen - Erfurt (2002) und Winnenden (März 2009) wurde darüber spekuliert, ob eine Korrelation zwischen Spielekonsum und Amokverhalten besteht.

Prof. Dr. Bernhard Bogerts sagt Ja. Allerdings seien dafür auch eine Reihe anderer Dispositionen notwendig. Der in Bingen geborene Psychiater bestritt mit seinem Vortrag "Gehirn und Verbrechen - Neurobiologische Erklärungsversuche für Gewalt, Terror und Völkermord" den Auftakt zum neuen Programm 2009/20010 des Wissenschaftlichen Vereins Mönchengladbach. Bogerts war von 1984 bis 1994 Oberarzt in der Psychiatrischen Klinik der Universität Düsseldorf (Rheinische Landesklinik). Seit 1994 ist er Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Der Referent betonte: „Für Gewalttaten gibt auch ganz andere Erklärungsansätze philosophischer, theologischer, juristischer Art, die hiermit nicht geschmälert werden sollen.“ Seine These untermauerte der Hirnforscher indes durch Bilder von Computertomografen und MRT-Messungen von Gewalttätern. Er zeigte die Hirnaufnahmen vom ersten Amokläufer Ernst August Wagner, der 1913 ebenfalls in Winnenden 17 Menschen getötet hat. Ebenso von RAF-Terroristin Ulrike Meinhof (1934-1976), sowie von unbekannten Gewaltverbrechern. Auf allen Bildern waren Veränderungen gegenüber einem gesunden Gehirn im limbischen System zu erkennen. Jener Funktionseinheit des Gehirns, die Emotionen, Triebe und Intelligenz steuert. Ein dortiger Fehler verursacht die Hemmung des Neokortex, in dem kulturelle und moralische Erfahrungen gespeichert sind. Das wiederum führt zu einer Aktivierung des archaischen Stammhirns (auch Reptilhirn genannt), das zuständig ist für Atmung, Reflexe, Selbsterhaltung. Bogerts folgert: „Aggressives Verhalten kann durch einen Fehler im limbischen System verursacht werden, obwohl keine Umwelteinflüsse vorhanden sind.“ Solche Schäden könnten entweder durch operative Eingriffe, etwa nach Entfernen eines Tumors, wie im Fall von Ulrike Meinhof, oder durch psychosomatische Störungen auftreten. Bogerts zeigte anhand von Untersuchungen, dass Gewaltbereitschaft zudem genetisch bedingt sein kann. Auch seien traumatische Kindheitserfahrungen und gewaltverherrlichende Ideologien (zweiter Weltkrieg) Auslöser von Gewalt. Hinzukommen müsse ferner ein auslösendes psychosoziales Umfeld. „Wenn mehrere Faktoren zusammenkommen, steigt die Gewaltbereitschaft exponentiell“, so Bogerts. Es lässt sich leicht erahnen, was einstudierte und gelebte virtuelle Kriegsszenarien im Kopf bei enstprechender Disposition und sozialen Umständen in Natura anrichten können.