Donnerstag, 23. Oktober 2008

Kultur im Fernsehen oder die Negation des Reich-Ranicki

Die Diskussion schien längst beendet. Die Macher des Fernsehens haben die Regeln erkannt. Auf der Jagd nach Quoten bleiben Inhalte oft auf der Strecke. Unterhaltung wird in viele Hüllen gesteckt. Und hin und wieder ziert diese Hüllen das Label "Kultur". "Harald Schmidt" war einst ein solches Hüllenformat. Hier voreilig in Panik auszubrechen würde der Frage, was ist überhaupt Kultur keinen Raum mehr lassen. Also, was ist überhaupt Kultur? Und was ist Kultur im Fernsehen? Der Leser dieses Blogs kennt natürlich die Antwort und weiß, in welchen Term diese Diskussion heute im 21. Jahrhundert mündet. MEDIENKULTUR ist heute nicht nur das Schlagwort, welches auf die Agenda derjenigen gehört, welche sich über die Niveaulosigkeit und die Bagatellisierung des Fernsehens echauffieren. Marcel Reich-Ranicki täte gut daran, seinen Kulturbegriff zu überdenken. Wie einst Adorno zählt er sich zur Elite. Zweifellos gehört er dazu. Der Elite mangelt es jedoch an Adaptionsvermögen und emotionaler, vielleicht sogar strategischer Intelligenz. Wer sich über die Masse stellt, der erhebt damit zugleich einen Anspruch, den er nicht erüllen kann. Nicht weil er Teil der Masse ist, sondern weil er ohne sie nicht wäre!
Das war denn auch der Teufelskreis der Medienmachinerie, aus dem auch der "Elite-Kritiker" (welch ein ironisches Wort) zusammen mit seiner verkörperten Antithese "Thomas Gottschalk" keinen Ausweg wusste. Immerhin: Sie haben die Misere erkannt. Wie soll man denn einer Amerikanisierung und Kommerzialisierung des Fernsehens entgehen, wenn Werbeeinnahmen das höchste Gut sind? Das Problem R-R´s: Zunächst einmal ist alles falsch und alles schlecht. Verneinend beginnt R-R jedenfalls nahezu jeden Satz - und das auch schon zu Zeiten des Literarischen Quartetts. R-R verfolgt seit eh und je eine Strategie der Negation. Was er nicht beachtet: Die Negation der Masse ist in einem Kahlschlag die Negation seiner selbst. Er kann abgeschieden leben, der Lust am Lesen fröhnen, und er kann die Kritik den Feuilletons kundtun. Doch kennen würde ihn wohl heute keiner, hätte er es dabei belassen. Es musste erst das Literarische Quartett die Lautstärke und Intensität des R-R in die Wohnstuben der (vielleicht kleineren Masse) übertragen, bis die Verneinung des Fernsehpreises überhaupt erst seine Wirkung tat. Die Negation ist seine Stragie. Bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises hat sie seinen Höhepunkt erreicht. Ein Elite-Mann sagt Nein zum Fernsehen und tritt von der Bühne. Doch er tut mehr: Er tritt ab, weil er sich selbst negiert hat.
Das ist das Dielmma, vor dem auch ein Harald Schmidt und viele Fernsehschaffende mehr nicht gefeit sind. Fernsehen zu machen aus tiefer Abneigung gegen das Fernsehen. Und so ergeht es bis heute allen Medienkritikern. Sie können nicht mit dem Fernsehen leben, doch ohne noch viel weniger. Die Kritik am Fernsehen ist hier gleichwohl eine andere als bei R-R: Die Fernsehnegation der Fernsehkritiker ist die Bejahnung der eigenen Arbeit. Ein Norbert Bolz, ein Neil Postman, ein Hans-Magnus Enzensberger wäre nichts ohne sein Gerät, das er so sehr verabscheut.
Und so kann sich auch Harald Schmidt nicht gegen das Fernsehen wehren. Er will lieber auf die Bühne, doch er fügt sich einem Oliver Pocher. Auch er hat nach langen Jahren des Probierens und Attackierens die Lexion des Scheiterns gelernt. Nach absterbenden Quoten "pocht" wieder das Herz der ARD-Intendanten. Das Begreifen der Misere ist der erste Ausweg. Die Ausfahrt nach Babylon (Lorenz Engell) ist die einzig verbleibende Lösung des Problems. Und so existieren die Hüllen weiter. Mal leerer, mal voller. Mal ein wenig Kultur, mal ein wenig Unterhaltung. Wenn es gut "läuft", ein wenig von beidem. Harald Schmidt wollte einst mit Bildung unterhalten. Heute sind Shakespear, Schiller und Dostorjevski Vergangenheit. Doch nach wie vor hat es Schmidt nicht verlernt, uns die Welt zu zeigen, mit Zynismus und Scharfsinn den Dingen auf den Grund zu gehen. Kleine Gesten, kurzes Zucken und alles ist gesagt.
Medienkultur ist die Antwort auf R-R. Sie weicht den Elite-Begriff der Hochkultur ein wenig auf und setzt die Akzente auf den Soft-Skills der Medienwelt. Wer das Fernsehen in die Unterhaltungshülle presst, es als Nullmedium abtut und einen Kulturverfall propagiert, der vergisst das Diktum Lumanns: "Alles was wir wissen, wissen wir aus den Massemedien". Heute muss der Satz erweitert werden: "Alles, was wir sind, sind wir ob der Massenmedien". Der Begriff der Masse, von den Soziologen dieser Welt kritisiert und gefeiert, hat längst ausgedient. Medienkultur tritt an seine Stelle und beürcksichtigt die gebotene Komplexität. Medienkultur offeriert Lebens- und Wirklichkeitsmodelle. Nicht nur ermöglichen Medien Anschlusskommunikation - so wie wir sie derzeit bei R-R erleben - und wenden damit Kulturprogramme in Form von Diskursen an. Die Soaps, Gerichtsshows, Popstars und Seelenstrips dieser Welt haben vielleicht mehr mit Brecht zu tun, als R-R glauben will. Die Geschwindigkeit und Intensität seiner Negation lässt ihm keinen Raum zu denken, über den medialen Tellerrand, in die Medienwirklichkeit zu gucken. Medien sind unabdingbar für die Wahrnehmung des Anderen, sie sind der Spiegel des Selbst - auch und gerade das Fernsehen.
Und wie geht es weiter? Was macht unser Teufelskreis? Was machen die Hüllen und die Negation? Nun, man kann versuchen, den Rettungsring zu erhaschen, den Anker zu werfen und die Segel zu setzen, so wie es R-R tat: Ja, Shakespeare war unterhaltsam. In der Tat. Und sicher könnte man versuchen, mit "Kultur" zu unterhalten, oder mit Unterhaltung zu bilden. Doch das Hüllendenken macht im Fernsehen wenig Sinn. Wer fern sieht, der sucht sich ein wenig von allem heraus, abhängig, von dem was er tut, wie er fühlt, was er will. Ein reines Kultur- oder Bildungsfernsehen widerstrebt der Dynamik der Medienkultur, des Lebens selbst.
Wir gestehen R-R die Kritik am Fernsehen zu. Vielleicht ist es an der Zeit, wieder einmal über den Sinn des Fernshens zu sinnieren und den Medienkultur-Diskurs aufzufrischen. Aber es wird wohl kaum dazu führen, dass wir Brecht und Shakespeare auf der Mattscheibe begegnen. Und das ist auch gut so. Marcel Reich-Ranicki sagte Nein und suchte die Ausfahrt. Er tritt ab. Es war sein letzter Akt. Über ebenso fragwürdigen Mechanismen der Literaturindustrie oder die abscheuliche Selbstbeweihräuscherung beim Deutschen Fernsehpreis braucht gar nicht geredet zu werden. Sie sind, was sie auch bleiben werden: Teil des Programs. Auch nach Reich-Ranicki.